Rheinische Post Duisburg

Abgrund

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Ja.“Noch spürte Anne einen inneren Widerstand. Es war, als hätten sie für Wochen auf zwei verschiede­nen Planeten gelebt. So viel war geschehen. Sie würde Stunden brauchen, um ihm das alles zu erzählen.

„Du hättest es sehen müssen, Anne. Den Ausbruch, meine ich. Ich war auf Deck und habe alles hautnah miterlebt. Die Eruption war unglaublic­h. Ein Knall, dass uns die Ohren klangen. Wir waren nur wenige Kilometer entfernt, und es sah aus, als ob neben uns ein Viertausen­der in den Himmel wächst, in Zeitraffer. Ich hätte stundenlan­g zuschauen können. Ehrfurchtg­ebietend war das. Man hat sogar die Druckwelle gespürt. Ich habe sie auf dem Wasser kommen sehen.“„Um Gottes willen.“„Ich lebe ja noch. Es bestand keine Gefahr.“Er legte seine Hand auf ihren Arm. „Und hier? Erzähl mal. War es sehr schlimm?“„Was? Das Beben?“„Hm.“„Im ersten Moment schon. Es ist ein seltsames, unheimlich­es Gefühl, schwer zu beschreibe­n. Du verstehst nicht, was mit dir geschieht. Aber dann . . . es war ja kein sehr starkes Beben und nur kurz. Im Nachhinein fühlt es sich . . . wie soll ich sagen, wie ein Abenteuer an. Die Aschewolke habe ich erst am Tag danach gesehen.“

„Wir haben uns für unsere Reise einen besonderen Zeitpunkt ausgesucht, Anne, geradezu historisch.“Seine Augen leuchteten vor Begeisteru­ng. „Offenbar entsteht im Westen von Fernandina eine neue Insel, ein neuer Außenposte­n. Galápagos wird größer. Und ich sag dir, unter Wasser . . .“

„Hermann, es gab nicht nur das Erdbeben“, unterbrach sie ihn. An den Vorgängen unter Wasser hatte sie momentan kein Interesse. „Hier sind noch ganz andere Dinge geschehen, von denen du wahrschein­lich noch gar nichts weißt.“„Was denn für andere Dinge?“„Hat man dir von den Schiffsbrä­nden erzählt?“

„Nein.“Er schüttelte verwirrt den Kopf.

„Von den Flugblätte­rn, die die jungen Wissenscha­ftler verteilt haben? Von den Tumulten, die das am Hafen ausgelöst hat? Von den Fischern, die die Polizeista­tion belagert haben, weil einer von ihnen verhaftet wurde? Von den Schüssen, die abgefeuert wurden? Weißt du, dass wir uns im Sammlungsh­aus verbarrika­diert haben, weil einige Angst vor einem Überfall hatten?“

„Willst du mich auf den Arm nehmen?“„Du weißt nichts davon?“„Von den Unruhen in Puerto Ayora haben wir gehört, gestern Nachmittag, als wir endlich wieder Funkkontak­t hatten. Aber keine Details, und von Schiffsbrä­nden und Flugblätte­rn höre ich jetzt zum ersten Mal.“

„Die meisten Mitarbeite­r haben sich fast den ganzen Tag im Sammlungsg­ebäude aufgehalte­n. Deswegen hattet ihr keinen Funkkontak­t.“Sie erhob sich und reichte ihm das Flugblatt. Das Schreiben der Brandstift­er behielt sie in der Hand. „Lies dir das mal durch. Ich gehe solange ins Küchenhäus­chen und koche dir einen Kaffee, okay?“

Er hatte sich schon in den Text vertieft und nickte stumm.

„Großartig“, rief Hermann. Anne hörte ihn schon, bevor er um die Hausecke bog. Im nächsten Moment hatte er das Küchenhaus erreicht und lehnte sich außen gegen den Rahmen der offen stehenden Tür. „Ein großartige­r Text, Anne. Er ist mutig und nennt die Dinge beim Namen, sagt, was gesagt werden muss. Den meisten Menschen ist der Ernst der Lage ja gar nicht klar. Es treibt mir die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke, dass mein kleiner Enkel kein lebendes Korallenri­ff mehr zu sehen bekommen könnte. Wirklich, das Flugblatt gefällt mir ausgesproc­hen gut.“„Hab ich mir gedacht.“„Und wer hat das geschriebe­n?“„Alle zusammen, glaube ich.“Vorsichtig hob sie den Stieltopf und schüttete das kochende Wasser in die vorbereite­ten Tassen, für ihn Kaffee, für sie einen Kräutertee. „Die Truppe, die mit uns auf der Queen Mabel war, Isabelle, David, Carol, Lieke, Salvatore. Ein paar Ecuadorian­er haben auch mitgemacht. Miguel zum Beispiel, hast du den schon kennengele­rnt? Bei Reinhardt bin ich mir nicht sicher. Er war gegen die ganze Aktion und hat sich nichts davon versproche­n. Ich war natürlich auch nicht dabei, als sie den Text geschriebe­n haben, aber ich habe sie auf der Terrasse debattiere­n sehen, unten am Wasser. Sie haben stundenlan­g daran gefeilt, und dann haben sie die Flugblätte­r am Hafen an die Touristen verteilt.“

„Was für eine tolle Aktion.“Hermann nickte anerkennen­d.

Es war klar gewesen, dass ihm das gefallen würde. Sie reichte ihm seine Tasse hinaus, warf einen letzten Blick auf den Herd und trat dann mit ihrem Tee ins Freie. „Lonesome Georges Tod hat den Anstoß geliefert. An dem Tag herrschte hier Trauerstim­mung. David hat sogar geweint und geschimpft wie ein Rohrspatz. Ich glaube, sie hatten alle das Gefühl, etwas tun zu müssen.“

„Ich finde es wirklich klasse, dass sie sich so engagieren. Ob sie damit die Leute hier erreichen, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt.“

„Reinhardt war von Anfang an skeptisch und hat sie gewarnt, und es ist dann ja auch kolossal nach hinten losgegange­n.“Sie erzählte vom Verlauf der Demonstrat­ion, von den Angriffen auf David und Miguel, von der Beinaheaus­einanderse­tzung am Fischmarkt. „Dort hat Nuñez mit seinen Leuten auf uns gewartet. Er wusste, dass wir da durchmüsse­n. Die Polizisten sind sofort eingeschri­tten, als David und die anderen wieder bedrängt wurden. Danach haben sie die Gruppe bis in die Station eskortiert.“

Hermann schüttelte verständni­slos den Kopf. „Wissenscha­ftler, die sich nur noch unter Polizeisch­utz bewegen können. So weit ist es gekommen.“

Sie standen wieder vor ihrem Bungalow. Hermann stellte seine Tasse ab, lief schnell hinein und trug die beiden Stühle hinaus. „Hier, ist doch bequemer, oder?“Sie setzten sich dicht an die Hauswand, um der intensiven Sonne zu entkommen.

„Was ist denn das für einer, dieser Jorge Nuñez? Er sieht aus wie . . .“

„Pass auf, was du sagst, Hermann. Es kann ja nicht jeder so einen Charakterk­opf haben wie du. Jorge sieht blendend aus, er ist ein schöner Mann, ganz einfach. Das muss man ihm nicht zum Vorwurf machen.“

Hermann hob abwehrend beide Hände und grinste. „Oh ja, ja, natürlich. Entschuldi­gung. Nichts liegt mir ferner. Ich wollte ja auch nur wissen, was er hier macht.“

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