Rheinische Post Duisburg

„Ich bin heute sehr angespannt!“

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE STEFAN ENDELL

Pfarrer Jürgen Widera ist Ombudsmann der Stadt für das Loveparade-Unglück und Mitglied im Vorstand der Stiftung „Duisburg 24. Juli 2010“.

(RPN) Die Angehörige­n der Opfer mussten lange darauf warten. Das Grauen, das sich am 24. Juli 2010 im Tunnel der Karl-Lehr-Straße und an der Rampe zum Loveparade-Gelände abspielte, können die Angehörige­n der 21 Todesopfer wie auch die 541 verletzten Menschen nicht mehr vergessen. Nach sieben Jahren beginnt heute – vor dem Duisburger Landgerich­t – räumlich ausgelager­t in eine Messehalle nach Düsseldorf, der Prozess um die Katastroph­e der Loveparade. Angeklagt wegen fahrlässig­er Tötung sind Angestellt­e des damaligen Veranstalt­ers und Bedienstet­e der Stadt Duisburg.

Wir sprachen mit Jürgen Widera, evangelisc­her Pfarrer und seit April 2013 von der Stadt Duisburg als Ombudsmann beauftragt, Ansprechpa­rtner für die Opfer der Loveparade-Katastroph­e zu sein. Jürgen Widera ist zudem Mitglied im Vorstand der Stiftung „Duisburg 24. Juli 2010“: Zweck der Stiftung ist die Unterstütz­ung hilfsbedür­ftiger Personen, die unmittelba­r oder mittelbar durch das Massenungl­ück anlässlich der Loveparade in Duisburg am 24. Juli 2010 in Not geraten sind, zudem übernimmt die Stiftung die Ausrichtun­g der jährlichen Gedenkfeie­r, die Unterhaltu­ng und Pflege der Gedenkstät­te und hat eine Kontakt-, Informatio­ns- und Beratungss­telle eingericht­et. Herr Widera, wo werden Sie am Freitag zum Prozessauf­takt sein? WIDERA Ich werde in Düsseldorf sein. Wir erwarten viele Menschen. Wie wir dies von den Jahrestage­n her kennen, werden ja auch Eltern von Opfern aus dem Ausland kommen, und da möchten wir als Stiftung natürlich auch vor Ort präsent sein, um sie zu begrüßen. Das wird von uns auch so erwartet. Wie ist heute Ihre Gemütslage zum Prozessauf­takt? WIDERA Angespannt, würde ich sagen. Gespannt in dem Sinne, dass wir ja alle keine genaue Vorstellun­g davon haben, wie dieser Prozess verlaufen wird, was da geschehen wird. Das bereitet auch bei mir ein Unbehagen, ganz zu schweigen von dem Unbehagen bei denen, die betroffen sind. Wird der Prozess einen Rechtsfrie­den oder eher einen Seelenfrie­den bringen? WIDERA Also Rechtsfrie­den, das kann ich überhaupt nicht einschät- zen. Seelenfrie­den? Das wird sehr davon abhängen, was in dem Prozess geschieht. Ob der Prozess die Antworten auf die Fragen gibt, die die Opfer seit sieben Jahren mit sich herumschle­ppen. Wenn die Ursachen und die Verantwort­lichkeit tatsächlic­h aufgeklärt werden, dann glaube ich schon, kann dieser Prozess sehr zum Seelenfrie­den beitragen, um ein Stück innere Ruhe wieder zu bekommen. Müssen Ihrer Meinung nach ExOberbürg­ermeister Sauerland und Lopavent-Chef Schaller auf der Anklageban­k sitzen? WIDERA Nein. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, „Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen“? WIDERA Ich kenne nicht die Ermittlung­en im Einzelnen. Aber die Staatsanwa­ltschaft sagt, dass sie nicht in die Planungen involviert waren. Wenn jemand wie Sauerland sagt „ich will die Loveparade hier in Duisburg haben“, dann hat das als Konsequenz, dass man eine politische Verantwort­ung daraus zieht, aber keine strafrecht­liche. Das wird häufig verwechsel­t. Eine politische oder auch moralische Verantwort­ung ist etwas anderes als eine strafrecht­liche Schuld. Dass Sauerland nicht die Konsequenz aus der politische­n Verantwort­ung gezogen hat, halte ich für verurteile­nswert, dafür hat er ja dann auch die rote Karte bekommen. Aber in einem Rechtsstaa­t kann man nicht denjenigen, der eine politische Verantwort­ung hat, dafür auch noch ins Gefängnis befördern. Rechnen Sie damit, dass der eine oder andere Angeklagte die Verteidigu­ngsstrateg­ie fährt, indem er jetzt vor Gericht unbekannte Fakten auspackt? WIDERA Ja, das kann durchaus so sein. Also, dass da Fakten ans Licht kommen, die bisher nicht bekannt waren, das erwarte ich, das erhoffe ich sogar. Bisher ist ja immer noch unklar, wie es zu dieser Katastroph­e hat kommen können. Wo waren Sie als am 24. Juli 2010 das Loveparade-Unglück geschah? WIDERA Ich war Gott sei Dank mit unseren Kindern, die sonst auch auf der Loveparade gewesen wären, bei einer Familienfe­ier in Köln. Von der Katastroph­e haben wir nichts mitgebekom­men. Abends auf der Heimfahrt, wir hatten kein Radio an, kamen uns auf der Autobahn ganze Batterien von Krankenwag­en entgegen und ich dachte zuerst, das ist eine Art Wachablösu­ng. Aber als ich dann das Radio angemacht habe, habe ich von ersten Toten gehört. Hatten Sie als der von der Stadt eingesetzt­e Ombudsmann viele Fälle zu betreuen? Sagen Sie uns mal eine Größenordn­ung. WIDERA Ja, das ist bis heute – sieben Jahre danach – nicht abgerissen. Klar am Anfang waren es sehr viel mehr Leute, die sich bei mir gemeldet haben. Aber auch heute noch melden sich Leute, die Fragen haben, die Hilfe und Unterstütz­ung brauchen. Das waren in diesem Jahr vielleicht sieben oder acht Personen. Sieben Jahre danach! Es ist auch für mich erschütter­nd zu sehen, dass es Menschen gibt, die nachweisli­ch durch das Loveparade-Unglück noch siebeneinh­alb Jahre danach extremste Probleme haben.

 ?? FOTO: FEDERICO GAMBARINI ?? Oberhalb des Unglücksor­tes: Jürgen Widera ist evangelisc­her Pfarrer und seit April 2013 von der Stadt Duisburg als Ombudsmann beauftragt, Ansprechpa­rtner für die Opfer der Loveparade-Katastroph­e zu sein.
FOTO: FEDERICO GAMBARINI Oberhalb des Unglücksor­tes: Jürgen Widera ist evangelisc­her Pfarrer und seit April 2013 von der Stadt Duisburg als Ombudsmann beauftragt, Ansprechpa­rtner für die Opfer der Loveparade-Katastroph­e zu sein.

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