Innsbruck 1976 – wie es mit der Gold-Rosi begann
Rosi, Rosi noch einmal“, hallte es im Chor aus unzähligen Kehlen in der sonst beschaulichen „Axamer Lizum“, dem größten Skigebiet rund um Innsbruck. Binnen kürzester Zeit verwandelte sich die Berg-Idylle in einen Rummelplatz. Denn eine junge Frau aus der Abgeschiedenheit des Chiemgaus, die nie zuvor ein großes Rennen gewonnen und allenfalls als Außenseiterin an den Start gegangen war, hatte die Goldmedaille in der Abfahrtsdisziplin der Olympischen Spiele 1976 gewonnen.
Die Lizum war plötzlich fest in deutscher Hand. Rosi Mittermaier gewann, und die Gold-Rosi war geboren. Sie war ein Star ohne Star-Appeal. Ein Star, der gar keiner sein wollte. Und das Verrückte war, dass
Welch unliebsame Folgen dieser Coup zeitigte, erfuhr Rosi Mittermaier nach der Rückkehr ins Elternhaus.
die junge Frau zwei Tage später erneut zuschlagen konnte. Dieses Mal aber im Slalom, ihrer Paradedisziplin. Nicht nur das Publikum und die Fans in Deutschland lagen ihr zu Füßen, es war eine Sternstunde des deutschen Sports – vergleichbar vielleicht mit dem unfassbaren Wimbledonsieg des 17-jährigen Boris Becker neun Jahre später.
Die Medien rissen sich um die 26-Jährige, die erstaunlich abgeklärt mit ihrem Glück umzugehen wusste. Ihr schwante wohl schon, dass dieses Ereignis nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihres gesamten Umfelds gründlich umkrempeln würde. Erste Auswüchse waren bereits im Zielraum spürbar, wo sie bereitwillig einer Gruppe deutscher Journalisten ihre Antworten auf de- ren Fragen in die Notizblöcke diktierte. Später, nach meiner Rückkehr, erfuhr ich, dass der Chefredakteur angesichts des Treibens, das am Bildschirm zu besichtigen war, schon die Frage gestellt hatte, wo denn „unser Mann“sei. Natürlich war der Gemeinte hautnah dabei und deswegen auch stocksauer, dass der Kollege Karl Senne vom ZDF plötzlich den neuen Liebling der Nation ziemlich grob von hinten packte und vor die Kameras und Mikrofone seines Arbeitgebers schleppte. Ich hätte ihn würgen mögen, und nicht nur ich.
Welch unliebsame Folgen dieser Coup zeitigte, dem sich noch die Silbermedaille im Riesenslalom hinter der Kanadierin Kathy Kreiner anfügte, das erfuhr die Gold-Rosi nach der Rückkehr ins Elternhaus auf der Winklmoosalm, wo sie ebenso wie ihre beiden Schwestern Evi und Heide bis dahin stets gut behütet gelebt hatte. Die Immobilie in der Abgeschiedenheit dieses Hochplateaus oberhalb von Reit im Winkl hatte sich in eine Pilgerstätte verwandelt. Busladungen voller Schaulustiger entleerten sich, die Menschen harrten stundenlang aus, zertrampelten den von Vater Heinrich Mittermaier liebevoll gepflegten Vorgarten und drückten sich an den Fenstern die Nasen platt.
Irgendwann war’s der Familie zu viel. Schwester Heide zog mit Mann und Kind nach Reit im Winkl, der Rest der Familie räumte die untere Etage aus und zog in den ersten Stock. Aber auch dort waren sie vor den Gaffern nicht sicher. Die gafften weiterhin von einer gegenüberliegenden Anhöhe.
Ein befreundeter Kollege, der den Auftrag hatte, für das ZDF einen Film über die getrübte Idylle zu drehen, wurde natürlich bereitwillig vorgelassen. Als die Hälfte der Dreharbeiten absolviert war, fragte Rosis Vater herausfordernd: „Und was ist mit dem Diridari?“Letzteres scheint zumindest auf der Winklmoosalm die verschämte Bezeichnung für finanzielle Entlohnung zu sein.
Der Mann hatte die Zeichen der Zeit schon damals erkannt.