Das Haus der 20.000 Bücher
Thomas More, der von einer idealen Gesellschaft, einem Utopia, träumte, schrieb über dessen Bewohner, sie fertigten „aus Gold und Silber nicht bloß für die Gemeinschaftshallen, sondern auch für die Privathäuser allenthalben Nachtgeschirre und sonstige zu ganz gewöhnlichem Gebrauch bestimmte Gefäße . . . Ebenso wundern sich die Utopier darüber, dass das Gold, das seiner Natur nach so unnütz ist, jetzt überall in der Welt so hoch geschätzt wird, dass der Mensch selbst, durch den und vor allem zu dessen Nutzen es diesen Wert erlangt hat, viel weniger gilt als das Gold selber, und zwar so viel weniger, dass irgendein Dämlack, geistlos wie ein Holzklotz und ebenso schlecht wie dumm, trotzdem eine Menge kluger und braver Diener hat, allein deshalb, weil er zufällig einen großen Haufen Goldstücke sein eigen nennt.“In seinem Exemplar hatte Chimen diesen Abschnitt mit Bleistift unterstrichen, vermutlich eher wegen der antimaterialistischen Erkenntnis als wegen der Kreativität von Mores Ausdrucksweise.
In seiner bewussten, konsequenten Vernachlässigung von Äußerlichkeiten hätte dies hier auch das Heim eines Anhängers der MussarBewegung sein können. Die schlampig verlegten Dielenbohlen erfüllten kaum noch ihren Zweck, darin ähnlich den uneinheitlich hohen alten Zaunpfählen um das dreistöckige Gebäude der Jeschiwa in Nawagradak, das der zwölfjährige Yehezkel 1898 unter großem Beifall betreten hatte. Doch gerade der baufällige Zustand des Hauses stand verblüffend im Einklang mit der Lebensweise britischer Kommunisten. In den 1980er Jahren ver- öffentlichte Raph Samuel eine Artikelserie in der New Left Review, die nach seinem Tod als Buch unter dem Titel The Lost World of British Communism erschien. Darin setzte er sich mit der kommunistischen Geisteshaltung und Ästhetik auseinander, mit denen er in den Jahren um den Zweiten Weltkrieg aufgewachsen war. Die Häuser und Wohnungen von Parteimitgliedern seien „nach zeitgenössischen Maßstäben trostlos“gewesen, „sichtlich heruntergekommen, was jedoch durch gut bestückte Bücherregale, geistiges Herzstück des Wohnraums, wettgemacht wurde“. Überzeugt davon, dass sie für „den Weg, die Wahrheit und das Leben“kämpften, brachten die Kommunisten in Raphs Jugend wenig Zeit für langweilige bourgeoise Pflichten auf, wie etwa dafür, aufzuräumen, die Rohrleitungen ausbessern zu lassen oder den Rasen zu mähen.
Die dem Kamin gegenüberliegende Wand war komplett hinter Regalen mit doppelreihig aufgestellten Büchern verschwunden. Auf diesen Regalen stand Chimens Sammlung soziologischer Texte: Bände von Émile Durkheim und Max Weber, von amerikanischen Soziologen und Kulturkritikern wie C. Wright Mills, Irving Howe und Daniel Bell. Hier wurde die Entstehung der Massenmentalität erklärt, genau wie die zunehmende Gegenreaktion in den Boheme-Kreisen der westlichen Welt. Wie Charlie Chaplin in Moderne Zeiten, einem seiner Lieblingsfilme, war Chimen ganz der Moderne verhaftet. Doch zugleich stieß ihn die Mechanisierung des modernen Lebens voll und ganz ab. In diesem Zimmer fanden sich viele der großen Kulturkritiker versammelt, die sich im 20. Jahrhundert mit der menschlichen Existenz beschäftigt hatten, aber auch manche ihrer Vorgänger, darunter Rousseau mit seinen Schriften über den Begriff des Gemeinwesens und über das Idealbild des edlen Wilden sowie die Philosophen der Romantik, die sich um Werke von Nietzsche scharten.
Auf halber Höhe barg ein kleines Regal die kaum zehn Zentimeter großen politischen Klassiker der Everyman- Reihe, meiner Lieblingssammlung im Hillway. Sie war vielen der großen politischen Denker der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende gewidmet, von Platon und Aristoteles bis hin zu Roger Bacon, John Locke und Thomas Hobbes, von dem Utopier Thomas More zu Giuseppe Mazzini, dem Theoretiker hinter der Einigung Italiens. Überraschenderweise war in dieser Reihe auch Marco Polo vertreten; er mochte kein großer politischer Denker gewesen sein, doch war er abenteuerlustig – und seine Reisen hatten meinen Großvater, der ja selbst viel von der Welt gesehen hatte, bestimmt fasziniert. Die Everyman- Ausgaben waren winzig, doch ihre Zielsetzung hatte etwas wunderbar Egalitäres an sich. Es waren billig hergestellte Hardcover, jedes mit einem eigenen leinwandartigen Farbeinband, und viele datierten aus den Jahren der Weltwirtschaftskrise, als es an hochwertigem Papier mangelte. Diese Bücher hatten Jackentaschengröße, damit sie rasch hervorgeholt und in der UBahn gelesen werden konnten, während man zur Stoßzeit eingeklemmt zwischen anderen Pendlern dastand. Sie waren zur allgemeinen Lektüre gedacht, in einer Zeit, in der stillschweigend angenommen wurde, dass die Menschen aller Klassen und Schichten in England Wert darauf legten, geistig voranzuschreiten. Jedem Band war dasselbe Mot- to vorangestellt, das der englischen mittelalterlichen Moralität Everyman entstammte: „Everyman, I will go with thee and be thy guide, in thy most need to go by thy side.“Hugo von Hofmannsthal empfand die Verse im Jedermann wie folgt nach: „Mich brauchst, der Weg ist schreckbar weit / Bist annoch ohne ein Geleit.“
Joseph Dent hatte die Everyman’s Library 1906 in London ins Leben gerufen. Mitte der dreißiger Jahre – damals begann Chimen, die Bücher zu kaufen und ihre Ränder mit winzigen Kommentaren auf Hebräisch und, später, auf Englisch vollzukritzeln – waren große Teile des westlichen politischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und literarischen Kanons bereits kostengünstig erhältlich. Als Chimen die Reihe entdeckte, umfasste sie 937 Bände; er besaß ungefähr fünfzig davon. Mit Hilfe dieser Bücher reiften seine politischen Ideen heran. Bei der Lektüre von Rousseaus Gesellschaftsvertrag unterstrich er den Satz: „Der Übergang vom ungebundenen zum staatsbürgerlichen Zustand bringt für den Menschen wesentliche Veränderungen mit sich; statt des Instinkts bestimmt jetzt die Gerechtigkeit seine Handlungen und gibt ihnen den sittlichen Charakter, der ihnen bisher fehlte.“In Platons Staat, den er 1937 in Jerusalem las, markierte er eine Passage über die Tyrannei, „die das fremde Gut nicht stückweise wegnimmt, sowohl heimlich als mit offener Gewalt, Heiliges und Erlaubtes, Persönliches und Öffentliches, sondern alles zusammen . . . Denn nicht weil sie das Ungerechte zu tun, sondern weil sie es zu leiden fürchten, schmähen auf die Ungerechtigkeit die, welche sie schmähen.“
(Fortsetzung folgt)