Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
In einer Eingabe, die er an die höhere Instanz gerichtet hatte, überhäufte er seinen unmittelbaren Vorgesetzten mit schweren Anwürfen. Er nannte ihn einen Intriganten, einen unfähigen Nichtswisser und einen Schmarotzer an Staatsgeldern und zieh ihn der Bestechlichkeit, niedriger Gesinnung und einer eines Staatsbeamten unwürdigen Lebensführung. Eine sofort angeordnete Untersuchung hatte die völlige Haltlosigkeit dieser Beschuldigung ergeben. Man hatte ihm nahegelegt, selbst um seine Pensionierung einzukommen, aber dazu „hatte er keinen Anlass, er wollte seine Sache durchfechten bis ans Ende, Recht müsse Recht bleiben“.
So hatte man ihn denn vom Dienst suspendiert, die endgültige Entscheidung war einer Disziplinarkommission übergeben worden. Zu Hause suchte er die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass sich in seinem Leben nichts geändert habe. Wie immer verließ er täglich um neun Uhr morgens mit seiner Aktentasche die Wohnung, pünktlich um halb vier kehrte er zurück. Die Zwischenzeit verbrachte er in kleinen, abgelegenen Kaffeehäusern, dort las er die Zeitungen, wobei er Stellen, die sein Missfallen erregten, mit blauen Ausrufungs- und Fragezeichen versah. Wenn er die Lektüre beendet hatte, führte er leise Selbstgespräche, oder entwarf auf Briefbogen endlose Verteidigungsreden, die er vor der Disziplinarkommission zu halten gedachte. –
„Den Vater pensionieren? Lächerlich. Du siehst ja immer schwarz, Lola“, sagte Vittorin. „Wie alt ist er denn? Vierundfünfzig war er im Sommer. – Was hat es denn gegeben heute Morgen?“„Ach, wieder wegen des Ebenseder“, berichtete Lola. „Der Vater hat mit mir geschrien – hast du’s nicht gehört? ,Ein Skandal, wie du den Menschen behandelst, was glaubst du denn eigentlich, ein Wunder, dass er überhaupt noch ins Haus kommt, du weißt es nicht zu schätzen, dass sich ein solider, anständiger Mensch – und so bist du immer gewesen, dumm und rücksichtslos und eingebildet und leichtsinnig, und das geht nicht so weiter –‘, und ich bin aus dem Zimmer gerannt und hab’ geheult. Seh’ ich nicht ganz verweint aus? Und dabei tut mir der Vater so leid. Georg, ich hab’ geglaubt, wenn du erst wieder da bist, dann hab’ ich doch wenigstens einen Rückhalt an dir –“
„Du mußt Geduld haben, Lola“, sagte Georg mit einem gequälten Zug um die Lippen. „Natürlich kannst du auf mich rechnen, ich mag’ ihn ja auch nicht, den Herrn Ebenseder. Aber du weißt, dass ich fort muss. Wenn ich zurückkomme, und ich bin vielleicht in vier oder fünf Wochen wieder da, dann hab’ ich den Kopf frei, dann geh’ ich zum Vater und sprech’ ein ernstes Wort mit ihm: Entweder dieser Herr Ebenseder verschwindet, die Lola will nichts von ihm wissen, oder wir beide gehen aus dem Haus, die Lola und ich. Und wenn er nicht nachgibt . . .“Die Schwester lächelte. „Du bist ein guter Kerl, Georg, das weiß ich ja“, sagte sie. „Aber so einfach, wie du dir’s vorstellst, ist das nicht. Den Vater können wir jetzt nicht im Stich lassen. Aber davon wollt’ ich doch gar nicht sprechen. Wieso bin ich überhaupt darauf gekommen? Etwas ganz anderes wollt’ ich dir erzählen. Vorgestern abends, ich saß allein im Speisezimmer und wollt’ schon schlafen gehen, da klopft es – der Herr Doktor Bamberger, unser Zimmerherr. Ob ich eine Minute Zeit für ihn hätt’. Aber gewiss, bitte sehr. Also kurz und gut, es hat sich um dich gehandelt. Er hat gehört, dass du perfekt Französisch und Italienisch sprichst, und dass du dich in der Zollmanipulation auskennst und überhaupt im Speditionsfach, und er meint, das sei gerade das, was er suche.“
„Von wem hat er das gehört, dass ich Französisch und Italienisch sprech’? Ich find’ das sonderbar, dass er über das alles so genau informiert ist. Ich hab’ mich nie um ihn gekümmert. Kennst du ihn näher?“
„Hie und da seh’ ich ihn natürlich, ich bring’ doch sein Zimmer in Ordnung. Er ist ein stiller, feiner, bescheidener Mensch. Die Vally scheint ihm sehr zu gefallen, mit der spricht er manchmal. Vielleicht hat die Vally ihm von dir erzählt.“
„Schön. Weiter. Was will er von mir?“
„Er hat geschäftlich viel mit Ausländern zu tun, mit Italienern und Balkanleuten. Vom nächsten Ersten an wird er auch sein eigenes Büro haben, bis jetzt hat er alles im Kaffeehaus erledigen müssen. Er möcht’ gern einmal selbst mit dir sprechen. Er sagt, Leute bekäm’ er natürlich genug, aber bei dir weiß er doch, wer du bist. Für die erste Zeit kann er dir allerdings nicht gar viel bieten, sagt er, weil er selbst nur mit sehr bescheidenen Mitteln anfängt, aber später – er ist ganz sicher, dass er reüssieren wird, und er will dich beteiligen.“
„Da liegt der Hase im Pfeffer. Ich soll für ihn arbeiten, nicht wahr, ich soll für ihn schuften, aber zahlen will er nichts. So sind sie alle. Versprechungen, das kennt man. Du bist aber naiv, Lola.“
„Du solltest doch einmal mit ihm sprechen, Georg. Ich will dir natürlich nicht zureden, ich versteh’ ja nichts von diesen Dingen. Aber wenn du wirklich deine Stelle aufgeben willst – Er macht einen guten Eindruck, glaub’ mir’s, er sieht aus wie ein Mensch, der ganz genau weiß, was er will.“
„Na schön. Ich kann mir ihn ja mal ansehen. Herrgott. Elf Uhr ist’s. Viel erwart’ ich nicht von der Bekanntschaft. Auf Versprechungen lass ich mich nicht ein. Die Menschen sind alle Kanaillen, ehrlose Lumpen, einer wie der andere. Ich hab’ sie kennengelernt. Ja, liebe Lola, man macht so seine Erfahrungen.“
In einer Fensternische des Domcafés saßen sie einander gegenüber, die Franzi hatte ihr Mittagessen beendet und bat um eine Zigarette. Er hielt ihr die offene Tabatiere hin.
„Ich hab’ noch ein paar russische, bitte, bedien’ dich. Die hier, die mit dem Mundstück nimm’! Krimtabak. Drüben in Sibirien haben wir auch chinesischen Tabak geraucht. Es gab da eine ganz feine, teure Sorte mit einem eigentümlichen Aroma, aber die war nicht zu bekommen. Ich hab’ nur einen einzigen Menschen gekannt, der diese Sorte geraucht hat.“
Er schwieg und versuchte, seine Zigarette auf eine besondere Art zwischen dem Goldfinger und der Spitze des kleinen Fingers der linken Hand zu halten. Aber es gelang ihm nicht recht, und er gab es auf.
„Um ein Uhr muß ich wieder hinauf ins Büro“, sagte die Franzi. „Aber ich hab’ dir vorher noch eine Menge zu erzählen. Also hör’ einmal, das Neueste: Der Herr aus Agram hat sich wieder gemeldet.“