2018 – zwischen Grauen und Hoffnung
Die deutsche Nationalelf startete ins Länderspieljahr als Weltmeister und landete als Absteiger. Die EM-Qualifikation entscheidet auch über Trainer Löw. Er muss den leisen Aufwärtstrend zum Jahresende bestätigen.
GELSENKIRCHEN Beinahe wäre es noch ein ganz versöhnlicher Jahresabschluss geworden. Es fehlten nur knapp vier Minuten. Die Nachspielzeit im Nations-League-Spiel gegen die Niederlande war gerade angebrochen, und die deutsche Nationalmannschaft schickte sich an, den 2:1-Vorsprung über die Zeit zu bringen. Da leistete sie sich die zweite grobe Unachtsamkeit in dieser Schlussphase, der aufgerückte holländische Verteidiger Virgil van Dijk traf mit einem wuchtigen Schuss zum 2:2-Ausgleich. Die Holländer feierten mit ihrem Anhang, die Deutschen ließen die Köpfe hängen. Es war ein Schlussakkord, der so richtig zu einem der trübsten Länderspieljahre der DFB-Geschichte passte.
Sechs Niederlagen hat sich Bundestrainer Joachim Löw 2018 mit seinem Team eingehandelt. Das ist ein neuer Rekord. Nicht einmal zwei seiner Vorgänger als Weltmeistermacher, die kaiserliche Lichtgestalt Franz Beckenbauer und Sepp Herberger, der Vater der Helden von Bern, kommen da mit. Sie verbuchten fünf Schlappen in einem Jahr, Beckenbauer 1985, als gerade so etwas wie ein Neuaufbau begann; und Herberger 1956, weil ihm nichts anderes einfiel, als mit den müden Weltmeistern von 1954 sein Glück zu versuchen.
Ein wenig ähnelt er damit dem Freiburger Löw. Der ging im Vertrauen auf seine Helden von Rio in dieses unselige Jahr. Und niemand zuckte auch nur, als es im März in Düsseldorf eine etwa halbstündige Vorführung in Fragen des modernen Kombinationsfußballs durch die Spanier gab. Denn der Gegner beließ es bei dieser kurzen Lektion, Deutschland kam auf und schaffte ein 1:1. Reaktion des Trainers: „Wir haben gezeigt, dass wir mit den Besten mithalten können.“So sahen es die meisten jener Zeitgenossen, die heute behaupten, schon damals ganz genau gewusst zu haben, dass Löw mit anderem Personal hätte nach Russland fahren sollen.
Für den nächsten Warnschuss sorgte Brasilien in Berlin. Mit Routine und einem abgeklärten Abwehrverhalten kontrollierten die Südamerikaner das deutsche Team. Sie setzten sich mit 1:0 durch. „Sie haben uns gezeigt, woran wir noch arbeiten müssen“, sagte Löw. Er wirkte ebenso wenig aufgeregt wie die große Öffentlichkeit, die zu seiner Einschätzung kräftig nickte: „Im gemeinsamen Trainingslager vor der WM werden wir an den Feinheiten arbeiten und eine gute Mannschaft ins Turnier schicken.“
Die Alarmglocken schrillten immer noch nicht, als der Weltmeister im Rahmen des Vorbereitungs-Trainings ein Testspiel bei den international zweitklassigen Österreichern mit 1:2 verlor. „Uns fehlte ein bisschen die Frische. Bis zum Turnier ist die Mannschaft fit“, versprach der Coach. Fußball-Deutschland dachte an die zurückliegenden vier großen Turniere, in denen Löw der Cheftrainer war. Und es fand keinen Grund, an seinen Heilkräften zu zweifeln. Nicht einmal nach dem letzten Test, in dem der Fußball-Riesenzwerg Saudi Arabien in Leverkusen das vermeintliche Weltklasseteam aus Deutschland nach Herzenslust auskonterte. Die DFB-Auswahl gewann 2:1, vielleicht verschloss das Ergebnis die Augen vor der Einsicht in drohendes Unheil.
So lässig wie Löw spielerische Unebenheiten wegmoderierte, so selbstgefällig ging seine Mannschaft die Weltmeisterschaft an. Der Dortmunder Angreifer Marco Reus plauderte aus, dass ihm der Trainer fürs Auftaktmatch gegen Mexiko Schonung versprochen hatte, „weil ich dich in den wichtigen Spielen brauche“. Auf dem Rasen konterte Mexi- ko das träge in die Breite kombinierende deutsche Team noch freudiger als die Saudis aus, und nach dem 0:1 gab es nur noch wichtige Spiele.
Es gab aber immer noch nicht die richtige Einstellung dazu. Allenfalls noch beim einzigen WM-Sieg, dem 2:1 gegen Schweden, das eine einigermaßen runderneuerte Mannschaft in der Nachspielzeit herauskämpfte. Das 0:2 gegen Südkorea war der verblüffende Rückfall ins Breitwandmuster mit gleichzeitiger Einladung zum schnellen Gegenangriff. Der Weltmeister fuhr nach der Vorrunde nach Hause – schlechter war ein deutsches Team bei einer WM noch nie gewesen.
Das war die dringende Aufforderung zu einem Neuaufbau. „Es ist natürlich vor allem auch meine Aufgabe als Trainer, dieses Feuer, diese Begeisterung, die Hingabe, die Emotionen, den Stolz wieder zu wecken“, erklärte Löw so blumig wie kämpferisch. Dass er der richtige Mann am richtigen Ort sei, be- zweifelten weder er selbst noch der DFB-Präsident Reinhard Grindel noch die Deutsche Fußball Liga oder die Trainer der Bundesliga. Das sagten sie jedenfalls.
Löw aber begann seine neue Mission mit einem Neuaufbau „light“. Seine langjährige Führungskraft Sami Khedira schob er aufs einstweilige Altenteil wie später den gleichfalls in Rio zum Weltmeister aufgestiegenen Jerome Boateng. Mesut Özil, auch so ein gekröntes Haupt, trat mit viel Theaterdonner zurück. Der Ertrag eines sehr vorsichtigen Umbaus: zunächst überschaubar. Gegen Frankreich gab es ein 0:0, gegen die Holländer ein herbes 0:3 in Amsterdam. Erst als auch jene Stimmen lauter wurden, die an Löws Eignung für eine Wiederbelebung des deutschen Fußballs an sich zweifelten, entschied sich der für gewöhnlich vor allem tiefenentspannte Trainer zu vergleichsweise durchgreifenden Änderungen. Die Öffentlichkeit, längst nicht mehr nur
von Löws Wunderkräften überzeugt, legte ihm den Einbau der weithin anerkannten Talente Serge Gnabry, Leroy Sané, Timo Werner und Kai Havertz ans Herz. Ohne Havertz stellte Löws nun umgebautes Team beim 1:2 in Frankreich zwar den Niederlagen-Rekord für ein Länderspieljahr auf. Aber die Vorstellung wurde als erster Schritt nach vorn gewürdigt – natürlich vor allem von der DFB-Delegation selbst.
Beim 3:0 gegen Russland brillierten die drei rasenden Spitzen ebenso wie der erstaunlich frühreife Havertz. Ansprüche daraus wollte Löw nicht zulassen. Auf Sicht wird er weder an Gnabry, Sané und Werner noch an Havertz vorbeikommen. Mit ihren Vorstellungen in den beiden letzten Spielen des Jahres haben sie Löw, den großen Zauderer, bereits zu seinem Glück gezwungen.
Denn nach dem Spiel gegen Russland und dem größten Teil der Begegnung mit den Niederlanden geht Deutschlands immer noch wichtigste Fußball-Mannschaft zumindest mit einem leisen Aufwärtstrend ins kommende Jahr. Im Augenblick steht sie sehr zu Recht dort, wo sie die Tabelle der Gruppe 1 in der A-Liga der Nations League ausweist: Dort ist sie Letzter und Absteiger in die europäische Zweitklassigkeit.
Von da sollte es im kommenden Jahr bergauf gehen. „Die Spiele zum Ende eines sehr enttäuschenden Jahres machen Mut“, sagte Löw in Gelsenkirchen. Er weiß, dass die EM-Qualifikation auch über seine Qualifikation als Trainer eines Teams entscheidet, das den Anspruch haben sollte, eine führende Rolle auf dem Kontinent zu spielen. Dazu muss der Coach ebenso wach bleiben, wie er es von seinen Spielern gelegentlich fordert.
Möglicherweise war ja der Absturz des gefeierten Weltmeisters das richtige Signal für den Trainer. Der große Schriftsteller Stefan Zweig, über dessen tiefere Beziehung zum Fußball nichts bekannt ist, hat dazu mal ein paar sehr passende Sätze geschrieben: „Immerwährender Beifall macht stumpf; nur die Unterbrechung schafft dem leerlaufenden Rhythmus neue Spannung und schöpferische Elastizität. Nur das Unglück gibt Tiefblick und Weitblick in die Wirklichkeit der Welt.“Vielleicht sollte Löw das mal lesen. Schadet jedenfalls nicht.