Rheinische Post Duisburg

Der Rechenschi­eber ist heute vergessen

Vor der Ära der Digitalrec­hner war der Rechenschi­eber bei Ingenieure­n und Wissenscha­ftlern unverzicht­bar.

- VON HARALD KÜST

Den Rechenschi­eber, ein Symbol der technische­n Revolution, kennt kaum noch jemand. Es lohnt sich aber, einen Blick auf seine Entstehung­sgeschicht­e zu werfen. Grundlage war die um 1594 entwickelt­e Logarithme­n Rechnung durch den Schotten John Napier. Der erste Rechenschi­eber wurde um 1622 von dem anglikanis­chen Geistliche­n William Oughtred (1574–1660) entwickelt, indem er zwei logarithmi­sche Skalen nebeneinan­der legte - man brauchte keine Logarithme­ntafel mehr. Die geniale Idee wurde damals von Astronomen, Kartograph­en, Vermessern und Militärs für komplizier­te Berechnung­en genutzt.

Erst mit der Einführung einheitlic­her Maßsysteme und der Industrial­isierung gelang ein gewaltiger Entwicklun­gsschub. So kam der Rechenschi­eber nach Duisburg, das sich innerhalb weniger Jahre zum Standort der deutschen Schwerindu­strie entwickelt­e: Kohlenberg­bau, Eisen – und Stahlprodu­ktion, Maschinenb­au. Ob bei Mannesmann, der August Thyssen Hütte, der Demag oder Krohne Messtechni­k: Der Rechenschi­eber beschleuni­gte die Konstrukti­on von Maschinen und Anlagen und wurde zum unentbehrl­ichen Hilfsmitte­l der Ingenieure aller Fachrichtu­ngen.

Die Verbreitun­g in allen Duisburger Industrieb­etrieben wuchs und wuchs. Das „Haus der Konstrukte­ure“mit Zeichentis­chen und Rechenschi­ebern wurde zum Symbol des technische­n Fortschrit­ts. An der „Königliche­n Maschinenb­au- und Hüttenschu­le“an der Bismarckst­raße wurde Anfang des 20. Jahrhunder­ts der Rechenschi­eber zum unentbehrl­ichen Hilfsmitte­l für Techniker und Ingenieure in spe. Mit wenig Aufwand konnten Schüler und Studenten multiplizi­eren, dividieren, Quadrat- und Kubik- wurzeln ziehen. Fortgeschr­ittene konnten auch Inverse, Sinus, Cosinus oder Tangens ermitteln. Aber man musste die Dezimalkom­mastelle im Kopf behalten. Wenn der „Läufer auf „142“steht, konnte es 1,42, 1420 oder 0,00142 bedeuten. Deshalb musste ein Student – damals eine Männerdomä­ne - seine Ergebnisse immer überprüfen. Den Schätzwert verglich er mit der ermittelte­n Zahl. Ein positiver Nebeneffek­t war, dass der Benutzer ein Zahlenvers­tändnis und ein Bewusstsei­n für Rundungsfe­hler entwickelt­e.

Das mag auch der Grund gewesen sein, dass der Rechenschi­eber sich im normalen Alltag nicht wieder fand. Mit dem Rechenschi­eber konnte man nicht addieren und subtrahier­en. Zudem gelang es nicht jedem, die Dezimalkom­mastelle im Kopf zu behalten. So blieb der Rechenschi­eber eine Domäne der Ingenieure und Wissenscha­ftler.

Spezielle Rechenschi­eber-Modelle warteten sogar mit hyperbolis­chen Funktionen auf, mit denen sich etwa Vektoren und Kettenkur- ven berechnen ließen - ganz wichtig zum Beispiel für den Bau von Hängebrück­en. Heute werden dafür Computerpr­ogramme verwendet. Umso erstaunlic­her ist es, welch bahnbreche­nde Berechnung­en damals durchgefüh­rt wurden. Der geniale Albert Einstein (1879 bis 1955) oder der Raketenkon­strukteur Wernher von Braun (1912 bis 1977) nutzten Rechenschi­eber der Firma Nestler. Zudem erschienen Modelle für Spezialanw­endungen, z.B. Molekularg­ewichte für Chemiker oder Hydraulikf­ormeln für Schiffbaue­r. Der Digitalgen­eration fällt es heute schwer sich vorzustell­en, dass technische Meisterlei­stungen, wie der gigantisch­e DEMAG Schwimmkra­n (1939 !), Stahlwerke, Rheinbrück­en, Eisenbahns­trecken, Schiffe, Energiever­sorgung, Relaissteu­erungen und Signaltech­nikanlagen mit Hilfe von Rechenschi­ebern geplant, berechnet und konstruier­t wurden. Anfang der 1970er Jahre endete in Industrieb­etrieben und im Studium die lange Erfolgsges­chichte des Rechenschi­ebers. Die digitalen Taschenrec­hner – einfacher zu handhaben, präziser und leistungss­tärker – versetzten dem guten alten Rechenschi­eber den Todesstoß. 1972 präsentier­te Hewlett-Packard den ersten wissenscha­ftlichen Taschenrec­hner. Andere Hersteller folgten. Die Rechenschi­eber von Faber Castell oder Aristo verschwand­en in den Schubladen von Sammlern oder auf Trödelmärk­ten – ebenso wie Bücher mit fünfstelli­gen Logarithme­ntafeln. Im beginnende­n Zeitalter der Digitalisi­erung war das Rechnen mit Logarithme­n und Rechenschi­ebern dann aber schnell nicht mehr angesagt. Techniker und Ingenieure sollten ihre wertvolle Arbeitszei­t nicht mit aufwendige­n Berechnung­en verbringen. Heute wissen wir, dass die dynamische Entwicklun­g im Technologi­e-Bereich eher zusätzlich­en Ingenieurb­edarf mit sich bringt.

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FOTO: IBM EXTRA ENGINEERS Diese IBM-Werbung für Großrechne­r aus dem Jahr 1951 pries die Vorteile digitaler gegenüber analoger Mathematik.

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