Sehnsucht nach dem Tourneesieg
Vor fast 17 Jahren gewann Sven Hannawald als bislang letzter Deutscher die Vierschanzentournee. Ab Sonntag nehmen die deutschen Skispringer einen neuen Anlauf auf den Gesamtsieg. Die Favoriten sind aber andere.
DÜSSELDORF Vier Wettbewerbe, vier Schanzen, nur ein Gesamtsieger: Der frühere Skispringer Thomas Morgenstern (32) weiß, wie sich der Triumph bei der Vierschanzentournee anfühlt. 2011 gewann er und gibt nun Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Tournee 2018/19.
Wer sind die Favoriten auf den Sieg bei der Vierschanzentournee?
Wer vor der Vierschanzentournee den Weltcup anführt, der gehört automatisch auch zu den Topfavoriten für den Gesamtsieg bei der Tournee. In diesem Jahr hat ein neuer Überflieger die Skisprungszene überrascht. Der Japaner Ryoyu Kobayashi hat vier der bisherigen sieben Weltcups gewonnen. Zwei Mal landete er auf dem dritten Platz. In der vergangenen Saison schaffte es Kobayashi nicht ein Mal unter die besten Fünf. Bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang war er aber bereits bester Japaner. „Kobayashi ist der Topfavorit auf den Titel. Er springt dieses Jahr am stärksten“, sagt der frühere österreichische Skispringer Thomas Morgenstern. Die Siege zu Beginn der Saison würden auch das nötige Selbstbewusstsein für eine gute Tournee bringen. „Er wirkt nicht so, als könne ihn bei fairen Windbedingungen derzeit irgendetwas verunsichern“, sagt Morgenstern. Der Tournee-Sieger von 2011 kennt selbst das Gefühl, als Favorit zur Tournee zu reisen.
Nicht unterschätzen dürfe man Vorjahressieger Kamil Stoch. Der Pole habe in dieser Saison zwar noch keinen Weltcup gewonnen, sei aber ebenfalls sehr stabil in seinen Sprüngen. „Kamil ist nicht mehr in der Pflicht, das Ganze gewinnen zu müssen. Er kann befreit springen“, sagt Morgenstern und sieht darin einen Vorteil des Olympiasiegers gegenüber dem 22 Jahre alten Japaner. Der inzwischen 31-jährige Stoch hatte in der vergangenen Saison alle vier Springen des Zwei-Länder-Wettbewerbs gewonnen. Das war zuvor erst einem gelungen: Sven Hannawald bei seinem Triumph 2002. In diesem Jahr könnte Stoch zum dritten Mal in Folge die Tournee gewinnen. Auch das schaffte bisher erst ein Springer: Norwegens Legende Björn Wirkola in den Jahren 1967 bis 69. Konkurrenz hat Stoch aber auch aus dem eigenen Team. Piotr Zyla scheint in seiner zwölften Weltcupsaison zum ersten Mal konstant in der Weltspitze mitspringen zu können.Morgenstern hat aber noch einen Geheimfavoriten: den Russen Jewgeni Klimow. „Er hat immerhin das Auftaktspringen gewonnen und im Sommer gezeigt, wie gut er ist. Er ist immer für eine Überraschung gut.“Norwegen und die deutschen Springer würden zum erweiterten Favoritenkreis gehören.
Für seine Landsleute aus Österreich müsse bei dieser Tournee schon viel passen, damit Stefan Kraft oder Daniel Huber Chancen auf den Titel haben. Kraft, dem Tournee-Sieger von 2015, liege allerdings die Schanze in Oberstdorf, sagt Morgenstern. „Vor dem ersten Springen ist es schwierig, die Favoriten auszumachen. In Oberstdorf setzen sich dann meist schon fünf bis acht Springer ab“, sagt er. Zudem sei in diesem Jahr die Pause zwischen dem letzten Weltcup und dem TourStart sehr lang gewesen. „Da hatten die Teams viel Zeit für individuelle Trainingseinheiten und die Optimierung des Materials.“
Wie steht es um die Chancen der DSV-Springer?
Die Sehnsucht der deutschen Skispringer und ihrer Fans nach dem goldenen Adler ist groß. Und Karl Geiger hat mit dem ersten Weltcup-Sieg seiner Karriere die deutschen Hoffnungen auf einen Tournee-Sieg neu entfacht. Er gewann die Tour-Generalprobe vor Weihnachten in Engelberg souverän. Geiger sagt, dass er so gut springt wie noch nie. Und tatsächlich landete der 25-Jährige in den ersten sieben Weltcups der Saison immer unter den besten Zehn. „Er hat jetzt mal den ersten Sieg angeschrieben. Das war schon ein starkes Zeichen an die Kollegen“, sagt Morgenstern.
Die Tournee startet traditionell in Oberstdorf, der Heimat von Geiger. Das kann motivieren, aber auch Druck schaffen. Geiger muss beweisen, dass er nicht nur den eigenen, sondern auch den Erwartungen der Fans und Experten standhalten kann. „Es ist wichtig, gut in die Tournee zu starten. Du kannst sie in Oberstdorf zwar nicht gewinnen, aber schon verlieren“, sagt Morgenstern. Im deutschen Team sieht der Österreicher neben Geiger noch zwei bis drei potenzielle Siegspringer. In dem Willinger Stephan Leyhe und Olympiasieger Andreas Wellinger sprangen zwei weitere Deut-
sche diese Saison bereits auf das Podest. Beide können auch bei den vier Springen in Deutschland und Österreich um die vorderen Plätze mitspringen. Bei der Tournee aber ist Konstanz gefragt. Richard Freitag ist eher ein Sorgenkind von Bundestrainer Werner Schuster. Freitag verpasste zum Saisonstart mehrfach den zweiten Durchgang. Auch der nach zwei Kreuzbandrissen genesene Severin Freund gehört noch nicht zu den Top-Ten-Springern.
Was erwartet die Skispringer an den vier Tournee-Orten?
Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen: Es warten vier Schanzen mit sehr unterschiedlichen Profilen bei Anlauf, Flugbahn und Aufsprung auf die Athleten. Auch die Wetterbedingungen sind vor allem beim Neujahrsspringen und an der Bergiselschanze in Innsbruck oft un- berechenbar. Ein Sturz dort kostete im vergangenen Jahr Richard Freitag die Chancen auf den Gesamtsieg. Der Auftakt in Oberstdorf ist seit Wochen ausverkauft. 35.000 Zuschauer werden die Springer anfeuern. Thomas Morgenstern erwartet einen „lässigen Hexenkessel“. Das sei super für die gesamte Tournee. Auch in Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen werden die Skisprungarenen voller Fans sein. „Für die wäre es natürlich toll, wenn Springer aus beiden Nationen lange um den Gesamtsieg mitspringen“, sagt Morgenstern. Insgesamt rechnen die Veranstalter der Tournee mit 100.000 Besuchern.
Wie steht es um die deutsch-österreichische Rivalität?
„Es ist immer eine gesunde Rivalität zwischen den beiden Ländern. Die Springer verstehen sich sehr gut, aber für die Fans ist es natürlich ein schöner Wettbewerb“, sagt Morgenstern. In den vergangenen zehn Jahren war die Vorherrschaft allerdings ziemlich klar: Von 2009 bis 2015 gewann immer ein ÖSV-Springer die Tournee. Die Deutschen blieben weitgehend chancenlos. 2016 und 2018 verloren Severin Freund und Richard Freitag dann ihre Siegchancen ausgerechnet durch Stürze in Innsbruck. Die Österreicher mussten allerdings in den vergangenen drei Jahren auch anderen beim Gesamtsieg den Vortritt lassen. „Es wäre zu wünschen, dass es einen Kampf auf Augenhöhe gibt und beide Nationen bis zum Schluss einen Springer im Rennen haben, der um den Sieg springt“, sagt Morgenstern.