Harmonielehre im Bademantel
Der Jazz-Pianist Chilly Gonzales begeisterte in der Kölner Philharmonie – als Musiker und Entertainer.
KÖLN Ganze zwei Stücke hält Chilly Gonzales durch. Er sitzt diszipliniert am Flügel, spielt Kompositionen seines aktuellen Albums „Solo Piano III“, die komplexer und tiefer wirken als die poppigen Miniaturen der Vorgänger. Doch dann lässt er über Lautsprecher seine Stimme einspielen, die seine Gedanken hörbar machen soll: „Das Publikum ist so still. Vielleicht reicht es ja, wenn ich nur Klavier spiele…“
Natürlich reicht das nicht – weder ihm selbst noch dem Publikum, das im mittlerweile achten Jahr die Kölner Philharmonie füllt, um einen schrulligen Typen in Bademantel und Schlappen eben nicht nur musizieren zu sehen.
Der gebürtige Kanadier Chilly Gonzales, der über Stationen in Paris und Berlin schließlich Köln als Wahl-Heimat wählte, ist zwar studierter Jazz-Pianist, aber in erster Linie Entertainer, der nah am Pop operiert. Nach Versuchen als satirischer Rapper „The Worst MC“und Mitmusiker und Komponist bei Feist oder Peaches landete er 2004 einen überraschenden Erfolg mit einem ersten Album voller Miniaturen für Solo-Klavier, die seitdem zum Standard-Soundtrack für alternative Frühstücks-Cafés in westlichen Metropolen gehören.
Im selben Jahr erschien das ähnlich ausgerichtete Werk „Una Mattina“von Ludovico Einaudi, dessen Zeitlupen-Satie auch Eingang in Yogastudios fand. Beide befeuern so bis heute einen Trend, den die norwegische Band Kings of Convenience Anfang des neuen Jahrtausends mit ihrem viel beachteten Albumtitel „Quiet Is The New Loud“(„Leise ist das neue Laut“) benannte. Dass Chilly Gonzales inzwischen locker an zwei Abenden die Kölner Philharmonie füllt, hat allerdings auch mit einer Qualität zu tun, die ihn zum besten Freund von Jan Böhmermann und Olli Schulz macht: Er kann redem, also sich gut verkaufen. Das nutzt er nicht nur für Späße mit dem Publikum, sondern auch für Aufklärung über seinen Kompositionsstil. Im Sabbat-Jahr 2016, in dem er weder Auftritte noch Interviews gab, um sein Ego zu beruhigen, kam er auf eine Idee, die Joni Mitchell und Keith Jarrett – um zwei Referenzen aus seinen Genres Pop und Jazz heranzuziehen – bereits in den 1970er-Jahren hatten: Er wollte seine Kompositionen nicht mehr unbedingt nach reinen Dur- oder Moll-Harmonien auflösen, sondern auch mal Dissonanzen aushalten. „Denn so ist doch das Leben.“
Ausdruck davon ist das kontemplative Stück „Be Natural“vom aktuellen Album, das immer wieder auf der übermäßigen Quarte im F-Dur-Akkord Halt macht, also einem Intervall, das im Barock als Tritonus bekannt war und als unzulässig galt. Eigentlich ist das ein simpler Kompositionstrick, aber in den pop-nahen Gefilden, in denen Chilly Gonzales sich bewegt, bricht er tatsächlich mit Hörgewohnheiten.
Abenteuerlicher wird es, als der Entertainer am Flügel erklärt, wie einfach die meisten Melodien großer Popsongs zustande kommen: Zum Beispiel „Smells Like Teen Spirit“von Nirvana – da verschiebe Kurt Cobain im Refrain bloß ein Motiv aus zwei Tönen auf der Skala, heraus komme ein Frage-Antwort-Spiel.
Große Lacher erntet Gonzales als er den Grunge-Rock-Hit mit Britney Spears‘ „Hit Me Baby One More Time“verschränkt. Was er dabei unterschlägt: Ein Popsong besticht nicht in erster Linie durch seine Melodie, sondern durch seine Arrangements, durch programmierte Bässe, Beats oder – im Falle Nirvanas – auch durch geniale Gitarren-Riffs. Hätte Kurt Cobain „Smells Like Teen Spirit“am Klavier gespielt, wäre ihm der verwirrend große Erfolg womöglich erspart geblieben.
Chilly Gonzales badet gern im Applaus, gibt Zugabe um Zugabe mit Cellistin Stella Le Page und dem chronisch unterforderten Schlagzeuger Joe Flory und schickt seine Fans schließlich mit einem Lächeln in das neue Jahr.