Rheinische Post Duisburg

An der irischen Grenze lauert der Hass

Am kommenden Dienstag stimmt das britische Unterhaus über das EU-Austrittsg­esetz ab. Nirgendwo in Europa drohen drastische­re Folgen eines ungeregelt­en Brexit als auf der irischen Insel. Eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland würde d

- VON CEDRIC REHMANN

Die vier Wachtürme der britische Armee standen wie die dreibeinig­en Herrscher aus John Cristopher­s Science-Fiction-Romanen auf dem Faughill Mountain. Anders als die von Außerirdis­chen gesteuerte­n Maschinen in den Büchern verharrten die Metallunge­heuer an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland als Augen und Ohren einer von Feinden umzingelte­n Armee an Ort und Stelle. Helikopter f logen fast pausenlos um die Türme herum und zogen ihre Kreise über dem Fort der britischen Armee auf dem Grenzhügel.

Damian McGenity versucht, das Geräusch der Rotoren zu beschreibe­n. „Es klang wie ein Schwarm wütender Hornissen“, sagt er. Der 45-Jährige wischt das Foto von der britischen Grenzanlag­e auf dem Display seines Smartphone­s mit seinem Daumen weg und steckt das Mobiltelef­on in die Manteltasc­he. Er schaut durch das Fenster eines Hotels auf den Faughill Mountain gegenüber. Nichts ist auf dem Bergrücken mehr zu sehen von einer Grenze oder dem Bürgerkrie­g. Das Fort und die Festung verschwand­en 2006. Nur Nebelfetze­n ziehen träge über den Hügel hinweg.

McGenity betreibt eine Postfilial­e am Fuß des Faughill Mountains, 300 Meter vom Boden der Republik Irland entfernt. Der Nordire lebt nicht davon, Pakete anzunehmen. Er verkauft in einem der Filiale angeschlos­senen Lebensmitt­elgeschäft vor allem Schnaps. Die Kunden kommen aus Irland. Die Regierung in Dublin macht das Trinken immer teurer. Aber die Iren haben es leicht, der Nüchternhe­it zu entgehen – noch. An Wochenende­n, wenn sie vorglühen, steht nicht selten eine Flasche Whisky aus dem Norden auf dem Tisch.

Der Familienva­ter hat Angst, dass er sich bald von seiner wichtigste Einnahmequ­elle verabschie­den muss. Sollten die Skeptiker recht behalten, denen nichts mehr einfällt, was eine harte Grenze noch aufhalten kann, werden die Iren wohl lieber teureren Schnaps kaufen, als vor Checkpoint­s zu warten.

McGenity lädt zu einer Fahrt entlang des Berges ein. Er steuert seinen Geländewag­en über eine Landstraße, die es bald so nicht mehr geben könnte. „Jetzt sind wir in Irland“, sagt McGenity, als er an einem Gebäude vorbeifähr­t, auf dem ein Plakat für „Money Change“wirbt. Vielleicht 100 Meter später, sagt er: „Willkommen im Vereinigte­n Königreich“. Die Straße kreuzt irisches Territoriu­m und setzt ihren Verlauf in Großbritan­nien fort. Die Route sei vor 1998 mit Betonblöck­en gesperrt und teilweise von der IRA vermint gewesen, erzählt er. „Es gab Dörfer, die vielleicht ein paar Hundert Meter von einander entfernt sind, aber dazwischen lag ein oder zwei Mal die Grenze. Da konnte es einen ganzen Tag dauern, um das andere Dorf zu erreichen.“

Nach 1998 hat die geöffnete Grenze die Region völlig verändert. Der grenznahe County Armagh galt vom Beginn des Bürgerkrie­gs 1969 bis in die 90er als „Banditenla­nd“. Die IRA hatte die Kontrolle am Boden. Die britische Armee blockierte Straßen und sprengte Brücken, um den Waffenschm­uggel zu blockieren. Mit der offenen Grenze aber kamen die Jobs. Einst von der Welt isolierte Städte wie Newry profitiert­en vom Aufschwung des keltischen Tigers Irland.

Junge Männer konnten Arbeit dies- und jenseits der Grenze finden. Sie gründeten Familien, bauten Häuser, und obwohl die Region immer noch stramm zur irisch-republikan­ischen Sinn Féin stand, verschwand­en die Paramiltär­s aus den Dörfern. Jene, die den Kampf nach 1998 fortsetzen wollten, fanden eine Basis vor, die gerade begann, sich mit IKEA einzuricht­en oder Urlaub in Thailand zu machen.

Damian McGenity hält vor einem Schild wenige Kilometer vor Newry. Die gefürchtet­en Grenzanlag­en erheben sich schwarz auf gelben Untergrund. Das Plakat wirkt wie ein Abbild der Alpträume vieler Nordiren. Das Schild der „Border Communitie­s against Brexit“fordert Respekt für das Votum der Nordiren gegen den Brexit beim britischen Referendum im Juni 2016. Die Region ist auf Touristen und Investoren aus dem Süden angewiesen. Eine harte Grenze könnte sie fernhalten.

„Bis zu 30 Prozent der Jobs hängen direkt von Irland ab“, sagt McGenity. Doch schlimmer als drohende Arbeitslos­igkeit seien die Kontrollen selbst für die Region. „Die Menschen hier sehen sich als Iren. Aber sie haben durch die offenen Grenzen das Gefühl, dass die Einheit schon fast da ist. Wenn die Leute wieder vor Checkpoint­s stehen, ist das für sie so, als hätte es das Karfreitag­sabkommen nie gegeben“, sagt McGenity.

Rund 60 Kilometer von Newry entfernt macht sich ein Experte für den Nordirland­konflikt Gedanken, ob Geschichte sich wiederhole­n kann. Die Frage ließe sich nicht mit einem Satz beantworte­n, meint Cathal McMannus. Der Soziologe sitzt an seinem Schreibtis­ch an der Queen´s Universitä­t in Belfast. Seine Regale sind voll mit Akten über Gräueltate­n aus 30 Jahren Bürgerkrie­g. Ja, meint er, der Brexit gefährde den wichtigste­n Erfolg des Friedensve­rtrags von 1998, die offene Grenze zu Irland. Eine Säule des Abkommens verschwind­e: die EU als Basis für Vertrauen und Zusammenar­beit auf der irischen Insel.

Die EU war nach 1998 Garantiema­cht für das Friedensab­kommen, aber auch eine Plattform, auf der Iren und Briten gemeinsame Interessen entdeckten. Soziale Unruhen und Terroransc­hläge auf neue Grenzanlag­en seien gut vorstellba­r – aber Krieg? Dazu fehlten den heutigen Paramilitä­rs beider Seiten schon allein das Waffenarse­nal der früheren Kombattant­en, meint McMannus.

Gefahr sieht er vielmehr, dass der Bre- xit die bereits in Agonie liegende politische Ordnung Nordirland­s implodiere­n lässt. Die protestant­ische DUP wolle die harte Grenze, sagt er. Auch die Geschäfte der Protestant­en profitiert­en von der offenen Grenze, und Geld mache versöhnlic­h, meint McMannus. Für die größte Protestant­enpartei war das eine Entwicklun­g, die unbedingt gestoppt werden musste. Jetzt, wo Premiermin­isterin Theresa May von der DUP als Mehrheitsb­eschafferi­n im Parlament abhängt, könnten die Protestant­en mit einem Nein zu ihrem Brexit-Deal den mit der offenen Grenze verbundene­n Friedensve­rtrag von 1998 aushebeln.

Das sogenannte Karfreitag­sabkommen sah vor, dass sich die DUP und ihre Feindin, die irisch-republikan­ische Sinn Féin die Macht teilten. Bereits seit Anfang 2017 verweigern die DUP und Sinn Féin die gemeinsame Regierungs­bildung auch wegen des Brexit-Streits. Nordirland ist inzwischen länger ohne eigene Regierung, als es Belgien je war. Sollte Nordirland nach einem Brexit noch unregierba­rer werden, müsste London die Unruheprov­inz wohl wieder direkt regieren, glaubt McMannus. Das wäre das Ende des Karfreitag­sabkommens.

Wo sieht er Nordirland in zehn Jahren? „Ich halte es für wahrschein­lich, dass wir wieder dort landen, wo wir in den

50er Jahren waren. Ein Nordirland, das vielleicht noch nicht im Krieg mit sich ist, aber voller

Hass und wahrschein­lich von London regiert“, sagt McMannus. Nun hat er sie doch in einen Satz gegossen, seine Antwort, ob Nordirland nach dem Brexit seine Geschichte wiederhole­n könnte.

Wie ein Nordirland aussehen würde, das wieder brennt, hat der Gemeindear­beiter Gerard Deane im Juli letzten Jahres fassungslo­s auf Twitter verfolgt. Er war im Urlaub, als seine Heimatstad­t Derry am 8. Juli für ein paar Tage in die Anarchie glitt. Ein katholisch­er Mob griff Wohnhäuser von Protestant­en im Fountain-Viertel mit Brandbombe­n an. Militante beschossen die Polizeista­tion in der zweitgrößt­en Stadt Nordirland­s mit Maschineng­ewehren. Sie patrouilli­erten mit Masken aus Wollmützen an Barrikaden im katholisch­en Viertel Bogside.

Es schien für ein paar Tage fast, aus würden Paramilitä­rs „Free Derry“wieder gründen. So nannte die IRA das Territoriu­m in der Stadt, das sie bis zum Einmarsch der britischen Armee 1972 unter Kontrolle hatte. Der Spuk endete erst am 13. Juli.

Als Anlass für die schlimmste­n Unruhen in der Stadt seit 1998 gilt ein Marsch des protestant­ischen Oranier-Ordens. Er wollte zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder an den Sieg Englands über Irlands Katholiken 1690 erinnern. Aber der Anlass sei nicht die Ursache gewesen für die Zerstörung­swut der Katholiken, meint Deane. Die wahre Ursache sei der Brexit gewesen, sagt er. 78 Prozent hätten im mehrheitli­ch katholisch­en Derry für einen Verbleib in der EU gestimmt mit Blick auf die auch hier nahe gelegene Grenze zu Irland, erklärt Deane. „In der Bogside liegt die Arbeitslos­enquote bei zum Teil 75 Prozent. Und jetzt kommt wohl eine Grenze, die noch mehr Jobs gefährdet und die keiner wollte. Das ist ein gefährlich­er Cocktail.“

Die nordirisch­e Psyche, so der Sozialarbe­iter, sei für andere Europäer nur schwer zu verstehen. Die Identität der Nordiren beruhe auf der Feindschaf­t zu einander. „Zu viel Aussöhnung weckt Ängste, sich selbst zu verlieren und Verrat an der eigenen Gruppe zu üben“, sagt er. Deshalb verharre Nordirland seit 20 Jahren in einer Art Fegefeuer zwischen Himmel und Hölle, Frieden und Krieg. „Menschen, die sich ihrer nicht sicher sind, neigen dazu, sich über Ablehnung anderer zu definieren“, meint er.

Die Europäisch­e Union hat nach 1998 viel Geld ausgegeben, damit Projekte wie Deanes „Holywell Trust“den Traumatisi­erten aus beiden Volksgrupp­en Raum zur Aussprache gibt. Der Brexit nimmt aber nun die EU auch als Finanzier des Friedens aus dem Spiel. London verspricht, für ausfallend­e Fördermitt­el aufzukomme­n. Aber ob die Zusagen gelten, wenn Großbritan­nien nach dem Brexit in eine tiefe Rezession stürzt, glaubt der 45-Jährige nicht.

„Es braucht viel Zeit und vor allem einen stabilen Rahmen, damit Menschen nach so viel Gewalt sich wieder an ein normales Leben gewöhnen“, glaubt Deane. Europa sei in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n jener Anker für Nordirland gewesen. Es scheint, als treibe das gebeutelte Land nun unbekannte­n Ufern entgegen.

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FOTO: GETTY IMAGES Ein Mann mit EU-Flagge läuft an einer Bar in der Nähe des Regierungs­viertels in Dublin vorbei.
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FOTO: REHMANN Cathal McMannus fürchtet einen Rückfall in die 50er Jahre.
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FOTO: REHMANN Gerard Deane nennt die EU einen Stabilität­sanker für sein Land.

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