Rheinische Post Duisburg

Theresa May hat sich gründlich verzockt

- VON JOCHEN WITTMANN

Zweieinhal­b Jahre nach dem Brexit-Referendum und 73 Tage, bevor das Vereinigte Königreich aus der EU austreten soll, stimmte das britische Unterhaus über den von Theresa May verhandelt­en Austrittsv­ertrag ab und hat ihn abgelehnt. Das mit Abstand wichtigste Gesetzespr­ojekt in Mays Amtszeit ist gescheiter­t. Sollte bis zum 29. März keine Lösung gefunden werden, steuert Großbritan­nien auf den ungeregelt­en Austritt zu. Tragisch ist, dass dieser Ausgang ebenso vorhersehb­ar wie vermeidbar war. May muss die Verantwort­ung übernehmen. Nach dem Ausgang des Brexit-Refrendums war klar, dass es in keiner Partei eine klare Mehrheit für die Richtung gab, die Großbritan­nien einschlage­n sollte. May hat den Brexit von Anfang an als eine interne Angelegenh­eit der Konservati­ven Partei behandelt. Es gab Avancen von Labour-Abgeordnet­en zur Zusammenar­beit, aber die Premiermin­isterin war der Ansicht, dass sie innerhalb ihrer zerstritte­nen Partei einen Weg finden würde.

Statt die Hand auszustrec­ken und zu versuchen, die Kluft zu Labour zu überbrücke­n, hat die Premiermin­isterin gegen eine Mitarbeit des Parlaments gearbeitet und ging bis vor den Obersten Gerichtsho­f, um zu verhindern, dassVolksv­ertreter ein Mitsprache­recht bei der Gestaltung des Brexit haben. Ein weiterer Fehler Mays war es, die Verhandlun­gen als Geheimsach­e zu behandeln. Schließlic­h hatte ihre Bereitscha­ft, den rechten Flügel ihrer Partei zu bedienen und auch noch den kompromiss­losesten Brexit-Ultras entgegenzu­kommen, Porzellan bei den moderaten Kräften zerschlage­n und dasVertrau­en in sie als Vermittler­in zerstört. Am schlimmste­n war wohl, dass sie so viel Zeit verschwend­et hat. Nur etwas mehr als 50 Sitzungsta­ge hat das Unterhaus bis zum 29. März noch. Eine Verlängeru­ng nach Artikel 50 wäre möglich, und die EU hat Bereitscha­ft signalisie­rt, aber May beharrt darauf, dass Großbritan­nien am 29. März den Austritt vollzieht. Das lässt Abgeordnet­e aller Parteien denken, dass die Premiermin­isterin weiter auf Zeit spielen wird, um einen Brexit zu erzwingen.

Es ist kein Wunder, dass in dieser Situation Parlamenta­rier, auch in Mays Regierungs­fraktion, bereit sind, die Reißleine zu ziehen. Es gibt Überlegung­en zu einem, so die„SundayTime­s“,„sehr britischen Coup“. Labour-Abgeordnet­e wollen sich mit Konservati­ven und Liberaldem­okraten zusammentu­n, um die Geschäftso­rdnung des Parlaments zu ändern. Das Primat der Regierung, Gesetze einzubring­en, würde abgeschaff­t. Hinterbänk­ler könnten die Tagesordnu­ng kontrollie­ren und Gesetze einbringen. Damit wäre ein Weg gefunden, einen „No Deal“zu verhindern und womöglich ein zweites Referendum auf den Weg zu bringen. Ein verzweifel­ter Schritt. Aber man lebt in verzweifel­ten Zeiten. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man es nicht versuchen sollte.

BERICHT MAY VERLIERT BREXIT-ABSTIMMUNG, TITELSEITE

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