Ein Jahr im ewigen Eis
Die 28-jährige Astroteilchenphysikerin Raffaela Busse von der Uni Münster forschte am Südpol – auch bei minus 75 Grad.
MÜNSTER Man muss sich die 28-jährige Raffaela Busse als einen glücklichen Menschen vorstellen: draußen bei bis zu minus 75 Grad in Einsamkeit und Abgeschiedenheit, in der sechsmonatigen Dunkelheit der Polarnacht am Südpol. Über ihr ein Himmel aus Sternen, Galaxien, schwarzen Löchern, Sinnbild für das Rätsel unserer Existenz. Unter ihr ein gigantisches, einen Kubikkilometer großes Observatorium im ewigen Eis, genannt IceCube (Eiswürfel), das eintreffende Hochenergie-Neutrinos registriert. Und neben
„Eine Herausforderung war es eher, wieder zurückzukommen in den Trubel hier“
ihr die US-amerikanische Amundsen-Scott-Südpolstation mit der kleinen Winterfamilie aus 40 Forschern. Raffaela Busse ist Astroteilchenphysikerin an der Uni Münster und hatte das Glück, ein Jahr am geographischen Südpol in der Antarktis leben und arbeiten zu können.
„Eine Herausforderung war es eher, wieder zurückzukommen in den Trubel hier“, sagt sie. „Das Leben am Südpol ist einfach.“Man muss dort keine Einkäufe erledigen, nur seine Arbeit, und einen Alltag leben mit einer überschaubaren Gruppe. Es gibt eine Sauna, einen Fernsehraum und acht Stunden am Tag einigermaßen brauchbares Internet. Für einen kurzen Spaziergang im ewigen Eis, den Raffaela Busse jeden Tag macht, an dem das Wetter es zulässt, braucht sie eine Spezialausrüstung, zu der mehrere Schichten warme Unterwäsche und drei Paar Handschuhe gehören, mit Chemikalien dazwischen, die Wärme ausstrahlen. Bei nahezu null Prozent Luftfeuchtigkeit blutet gerne mal die Nase, die Lippen reißen auf.
Muss sie das letzte Paar Handschuhe – dicke Fäustlinge – ausziehen, um zum Beispiel im Polarsommer ein Flugzeug zu betanken, kann das Gefrierbrand bedeuten: „Wenn die Stelle weiß ist und weh tut, ist es gut. Wenn sie schwarz ist und man nichts mehr spürt, ist es schlecht“, erklärt sie mit trockenem Humor. Sie hat allerdings gerne Flugzeuge betankt, denn dafür gab es Extra-Minuten unter der heißen Dusche. Die normale Ration sind vier Minuten pro Woche. Das knappe Gut ist dabei das Kerosin. Zum Betrieb der Station sind zwar über eine Million Liter mit Frostschutz versetztem Kerosin vorhanden. Aber der Aufwand, um den Treibstoff in diese entlegene Region zu liefern, ist enorm – Sparsamkeit ist deswegen oberstes Gebot.
Raffaela Busse musste sich in den drei Monaten Vorbereitungszeit in Madison, Wisconsin, zwar auch psychologischen Tests unterziehen. „Nach WG-Erfahrung wurde jedoch nicht gefragt“, erinnert sie sich. Es scheint auch kein bestimmter Charaktertyp zu sein, der geeignet erscheint, sechs Monate eingeschlossen im antarktischen Eis und Dunkelheit zu überstehen, ohne durchzudrehen. „Die Gruppe war bunt zusammengewürfelt“, sagt die Forscherin. „Und klar ging einem irgendwann auf die Nerven, wie jemand kaut oder lacht, aber man konnte sich ja jederzeit in das eigene Zimmer zurückziehen.“
Gegenüber den Problemen mit festen und flüssigen Stoffen und sozialen Gefügen beschäftigte Raffaela Busse sowieso eines viel mehr: die Frage danach, was unsere Welt (und alle anderen) im Innersten zusammenhält. Aufgabe der Physikerin war, die hundert Computer am Laufen zu halten, die 24 Stunden am Tag ein Terrabyte Daten aus den über 5000 Sensoren des IceCube aufzeichnen. Diese registrieren Hochenergie-Neutrinos, die im Eis schwachblaue Tscherenkow-Strahlung hervorrufen, wenn sie hindurch schießen.
Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen mit sehr geringer Wechselwirkung. „Wenn man einen Daumen hebt, kann man davon ausgehen, dass pro Sekunde 60 Milliarden Neutrinos durch den Nagel ziehen“, veranschaulicht Raffaela Busse die Dimensionen ihrer Forschung.
Von einem Observatorium wie IceCube, das im besten Fall die Herkunft der Hochenergie-Neutri- nos bestimmen kann, erhoffen die Wissenschaftler sich neue Erkenntnisse über Aufbau und Entstehung des Universums. „Man vermutet, dass sie ein Teil der dunklen Materie sind“, sagt Busse, also Teil der noch unbekannten, nicht sichtbaren Materie, aus dem der allergrößte Teil des Kosmos zu bestehen scheint.
WährendihrerZeitaufder Südpolstation gab es einen Durchbruch: Die Sensoren registrierten ein Hochenergie-Neutrino, das
vom über vier Milliarden Lichtjahre entfernten Blazar TXS 0506+056 stammt, einer Galaxie mit einem gewaltigen schwarzen Loch im Zentrum. Es kann den Forschern Aufschluss darüber geben, wie die extrem hohe Energieproduktion in supermassereichen schwarzen Löchern zustande kommt.
Was bringt uns dieses Wissen? „Grundlagenforschung ist manchmal schwer zu verteidigen, wenn nach dem unmittelbaren Nutzen gefragt wird. Was uns das alles bringt, das wissen wir mutmaßlichen erst in ein paar Jahrzehnten“, sagt Raffaela Busse. Denn schließlich hat sie das große Ganze im Blick. Genauer: das allerkleinste Kleine. Im Moment schreibt sie ihre Doktorarbeit über IceCube in Münster. Aber jederzeit würde sie zurückkehren an den Südpol.
Und wenn die ESA wieder eine Stelle ausschreibt, ist sie die erste, die sich bewirbt: „Natürlich will ich in den Weltraum! Ich bin Physikerin!“Ihre Lieblingsserie ist Star Trek – The Next Generation, in der das Raumschiff Enterprise unterwegs ist zu unendlichen Weiten, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat.