The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore
Scott Walker, Teenie-Idol der 60er Jahre und eine der faszinierendsten Persönlichkeiten des Pop, ist tot.
LONDON Scott Walker ist tot, und das ist schlimm, denn der Pop braucht dringend Charaktere wie ihn. Der 76-Jährige war ein Außenseiter, er gehört in die Reihe der weltabgewandten Genies wie Syd Barrett und Brian Wilson, und er zeigte, wie weit man gehen kann und was alles möglich ist. Genau genommen besteht das Lebenswerk von Scott Walker darin, Konsequenz als eigene Kategorie der populären Musik überhaupt erst installiert und gleichzeitig bis zum Äußersten getrieben zu haben.
Begonnen hat die Karriere des Amerikaners Mitte der 1960er Jahre, als er als Kopf der Walker Brothers auftrat, die indes weder Brüder waren, noch Walker hießen. Einen Sommer lang galt das Trio als Konkurrenz der Beatles; 1966 war das, als ihr größter Hit „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“erschien. Scott Walker, der als Noel Scott Engel geboren wurde, gefiel das Leben als lockiges Teenie-Idol im Rollkragen-Pulli aber überhaupt nicht. Und so lösten sich die Walker Brothers rasch auf, und ihr Sänger ver- zog sich ins Kloster, um gregorianische Choräle zu studieren.
Ende der 1960er Jahre kehrte Walker als Solo-Künstler zurück. Seine in rascher Folge erschienenen Alben „Scott 1 – 4“gehören zu den Höhepunkten der Popgeschichte des 20. Jahrhunderts. Walker ließ sich inspirieren von der europäischen Tradition, von Chanson und Kabarett. Er coverte Jacques Brel, sang über den Film „Das siebente Siegel“von Ingmar Bergman, und vor allem „Scott 4“ist eine unglaublich tolle Platte: eleganter, symphonischer Erwachsenen-Pop, der David Bowie inspirierte, Jarvis Cocker von Pulp niederknien ließ und Thom Yorke von Radiohead zum Maßstab wurde. Das Problem: Das Album fand kaum Käufer, es gilt heute zwar als Klassiker, war zu seiner Zeit aber ein Flop. Seinen wirtschaftlichen Erfolg kommentierte Walker selbstironisch: „Ich bin wie Orson Welles: Man will mit mir Mittag essen, aber niemand will den Film finanzieren.“
In den 1970ern wurden die Walker Brothers reaktiviert, und ihr letztes Album „Nite Flights“(1978) deutete an, wohin sich Scott Walker entwickeln würde: düstere Stücke, die über den Gesetzen des Populären schweben. Von 1983 an veröffentlichte er dann solo und im Zehn-Jahres-Takt die Einzelteile einer Trilogie über menschliche Abgründe, Pest und Krieg: zuerst „Climate Of Hunter“(das im Katalog der Plattenfirma Virgin als das am schlechtesten verkaufte Album gilt), dann „Tilt“und „The Drift“. Das ist schwarze, düstere, ja: opake Musik. Hieronymus Bosch und Samuel Beckett standen Pate. Da ist die Rede von Claretta Petacci, der Mussolini-Geliebten, die um ihre Hinrichtung bettelt. Elvis Presleys totgeborener Zwillingsbruder Jesse Garon Presley kommt zu Wort. Auch Joseph Beuys hat einen Auftritt. Esel und Enten schreien dazu, Heuschrecken-Schwärme summen. Walker presst seinen Bariton zu einem winselnden Tenor, und zumindest „The Drift“hört man komplett wahrscheinlich nur einmal in seinem Leben. Zu mehr reicht die Kraft nicht.
Das eine Hören wird man jedoch nie vergessen. Es tut weh, aber man findet darin auch schroffe Schönheit und Inspiration. Scott Walker wandelte sich zum Musik-Denker, zum Forscher des Abwegigen, zum Virtuosen des Unbedingt und Darüber-Hinaus. Seine Produktionen vermittelten eine Ahnung von etwas Neuem.
40 Jahre ist er so gut wie nie aufgetreten, es gab wenige Fotos von ihm, er war ein öffentliches Phantom. Nun ist er der Welt endgültig abhandengekommen.