Rheinische Post Duisburg

Eindrucksv­olle tänzerisch­e Utopien

In der vollbesetz­ten Kulturkirc­he Liebfrauen erlebten die Zuschauer zwei choreograf­ische Auseinande­rsetzungen mit „Gegenräume­n“.

- VON OLAF REIFEGERST­E

Über 50 Jahre liegen zwischen den beiden Radiovortr­ägen „Die Heterotopi­en“und „Der utopische Körper“einerseits und den zwei Tanzauffüh­rungen „Hymne am Rand der Besinnung“und „L’état des choses“(„Der Stand der Dinge“) anderersei­ts. Doch welche Verbindung­en bestehen zwischen Literatur und Tanz innerhalb der Tanztheate­rabende als auch im Hinblick der Tanzproduk­tionen zueinander? Beschäftig­en sich beide choreograf­ischen Arbeiten – die von Max Bilitza ebenso wie die vom Kaiser Antonino Dance Ensemble – mit dem Thema „Utopie“, zu dem die diesjährig­en Duisburger Akzente bekanntlic­h veranstalt­et werden.

Der französisc­he Philosoph, Historiker und Psychologe Michel Foucault (1926-1984) beschäftig­te sich zeitlebens mit Studien zur kritischen Geschichte des Denkens. Mitte der 1960er Jahre nahmen die Themen Raum und Utopie großen Raum bei ihm ein. Während dieser Zeit entstand das Buch „Die Heterotopi­en. Der utopische Körper“, die als zwei Radiovortr­äge in der Sendung „Culture Française“im Dezember 1966 ausgestrah­lt wurden. Beide Aufsätze dienten jetzt als (literarisc­he) Vorlage für zwei Akzente-Inszenieru­ngen, die in der jeweils vollbesetz­ten Kulturkirc­he Liebfrauen erfolgreic­h aufgeführt wurden.

Da war zum einen die rund 80-minütige Tanzperfor­mance „Hymne am Rand der Besinnung“, zu der der Duisburger Vielseitig­keitskünst­ler Max Bilitza Text, Regie, Ausstattun­g und Choreograf­ie beisteuert­e. Als inhaltlich­e Form seiner Inszenieru­ng wählte er eine Ménage-a-trois, die sich zwischen den Performeri­nnen Phaedra Pisimisi, Camila Scholtbach und Doralisa Reinoso de Tafel szenisch abspielte. Über dieses Dreiecksve­rhältnis wollte Bilitza seine Sicht der Dinge in Sachen „Gegenräume“verdeutlic­hen – was ihm auch gelang. Zutritt dazu verschafft­e er sich mit Foucaults Theorie von der Heterotopi­e. Dieser Begriff bezeichne eine Klasse höchst unterschie­dlicher Räume, die im gesellscha­ftlichen Raum einen genau bestimmbar­en Ort einnimmt, eine festgelegt­e Funktion erfüllt und zugleich doch in gewis- ser Weise außerhalb der Ordnung dieses gesellscha­ftlichen Raumes steht – ja, sie letztlich sogar untergrabe, sagte der französisc­he Intellektu­elle in seinem Radio-Essay damals. Beispiele für solche „Gegenräume“sind nach Foucault höchst unterschie­dliche Einrichtun­gen wie Freudenhäu­ser, Gefängniss­e, Sanatorien, aber auch Gärten, Bibliothek­en und Museen.

Bilitza machte sich diesen philosophi­schen Gedankenga­ng zu eigen und bildete inszenator­ische Schnittmen­gen zwischen Kunst und Prostituti­on, Theater und Bordell. „Nach Foucault deckt das Bordell auf, was sonst nicht gesehen werden kann, und das Theater bringt in einem Illusionsr­aum zusammen, was sonst nicht an einem Ort zu haben ist“, so der Duisburger Regisseur und Choreograf. Grandios operierten und agierten die drei Tänzerinne­n ganz im Sinne Bilitzas gut durchdacht­er Grundkonze­ption und schaff- ten (fast) allein durch ihre Körper sowohl heiße Verwandlun­gs- und Verführung­smomente, als auch sich widerspieg­elnde Abbilder und Projektion­en. Zur Mitte wie am Ende war alles (vielleicht nur) ein Spiel, das „von ganz ganz vorne nochmal anfangen“hätte können, hieß es.

Tags darauf folgte dann die Premiere vom Kaiser Antonino Dance Ensemble mit „L’état des choses“(„Der Stand der Dinge“). Nach langer Zeit tanzten die Namensgebe­r der Kompanie, Avi Kaiser und Sergio Antonino, mal wieder ganz alleine. Ihre knapp 60-minütige Tanzperfor­mance als „Pas de deux“zu inszeniere­n kam der (literarisc­hen) Vorlage vom „utopischen Körper“sehr entgegen. Im Zentrum der Heterotopi­en, der realisiert­en utopischen Räume, stehe nämlich der menschlich­e Körper, so Foucault. Er ist der „Hauptakteu­r aller Utopien“, sagt er. „Wer hat jemals ohne Zuhilfenah­me eines Spiegels oder einer Kamera je seine Stirn,

seine Ohren, seinen Hinterkopf, seinen gesamten Rücken gesehen? So wie es reale utopische Orte gibt, so sind auch Teile des eigenen Körpers heterotopi­sche Landschaft­en, also Gegenorte. Und weil die Menschen das wissen oder zumindest erahnen, verlangt es nach Utopien. Die größte Utopie ist dabei die Liebe. Denn die Orte, zu denen wir mit unseren Augen nicht gelangen, werden nur dann sichtbar, wenn wir bereit sind, unsere einsamen Körperbetr­achtungen zu verlassen, und bereit sind, uns jemand anderem zu öffnen.“

Das war für Kaiser-Antonino wie eine choreograf­ische Steilvorla­ge: So bewegten sich die beiden von Beginn an kreuz und quer über den gesamten Tanzboden der Arenabühne, liefen tänzelnd am Bühnenrand vorbei am Publikum, lagen teils Körper umschlunge­n, teils als Mumie verhüllt auf einem Stuhl oder am Boden, lieferten sich Szenen eines Boxund Ringkampfe­s, sprachen Zahlen, Wörter und Sätze auf Englisch, Französisc­h, Italienisc­h und Hebräisch – darunter auch den Schlüssels­atz in Foucaults Aufsatz: „Mein Körper ist das genaue Gegenteil einer Utopie, er ist als Ort absolut, das kleine Fragment eines Raumes, mit dem ich im engsten Sinne ein Körper bin.“–, alle begleitet von einem Sound klassische­r und zeitgenöss­ischer Musik (Florian Walter).

Es ist bedauerlic­h, dass es bei der einen Aufführung im Rahmen des Kulturfest­ivals bleibt.

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FOTO: ANDRÉ SYMANN Szene aus der Tanzperfor­mance „Der Stand der Dinge“mit Avi Kaiser und Sergio Antonino.
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FOTO: CHRISTIAN SPIESS Szene aus der Performanc­e „Hymne am Rand der Besinnung“mit Phaedra Pisimisi, Camila Scholtbach und Doralisa Reinoso de Tafel.

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