Rührt euch!
Die Gesellschaft mag auseinanderfliegen, aber in Korschenbroich feiern sie „Unges Pengste“. Was ist das für eine Veranstaltung, die sich seit Jahrzehnten dem Zeitgeist erfolgreich widersetzt? Drei Tage mit dem Schützenzug „De Boschte“.
KORSCHENBROICH Eine Nacht im Hotel und drei Alt liegen hinter mir, als ich mich mit elf fremden Männern um die 60 auf einem Friedhof in Korschenbroich-Pesch wiederfinde. Es ist 14.30 Uhr am Samstag vor Pfingsten, der Regen pausiert. Die Männer gehen gewohnte Wege. Sie haben sich eingebrannt, aber sie werden länger. Immer wieder wendet sich einer der Männer ab, hebt Zweige vom Mulch, entzündet ein Licht, ist kurz für sich. Hier liegen Freunde, Eltern, Nachbarn, Kinder. Und Schützenbrüder.
Johannes zieht einen Zettel aus seiner Regenjacke, die anderen senken ihren Blick auf die Inschrift auf dem Grab. Der Mann unter der Erde gehört zu ihnen. Die Mitgliedschaft erlischt nicht mit dem Tod. Johannes schaut auf den Zettel und liest mit brüchiger Stimme vor. Er spricht von Sorgen und Hoffnungen, von Liebe und Ängsten. Es ist ein Gedicht von Erich Fried. Bei der letzten Zeile habe ich feuchte Augen, und ich sehe: die elf fremden Männer um die 60 auch.
Seit 1975 bilden diese Männer den Korschenbroicher Schützenzug „De Boschte“, was etwa „Die Jungspunde“bedeutet. Für drei Tage gehöre ich, etwa halb so alt wie die anderen, zu De Boschte. Ich sehe mir ihre Trecker an, esse mit ihnen Erdnussflips, trinke mit ihnen Schnaps, marschiere neben ihnen bei „Unges Pengste“, einem der größten Schützenfeste der Welt. Ich lache und trauere mit ihnen. Das hätte ich mir nicht vorstellen können, und meine Schützenbrüder auf Zeit sich auch nicht.
Meine Schützenbrüder auf Zeit heißen: Johannes, Friedhelm, Friedhelm, Matthes, Matthes, Hans Jürgen, Flum, Werner, Hans, Peter und Frank. Manchmal auch Jupp, aber der muss meistens Musik machen. Sie haben in dieser Geschichte bloß Vor- oder Spitznamen, weil Nachnamen unter Schützen keine Rolle spielen. Genau wie Beruf, Abschluss oder Alter. Die Uniform uniformiert, auch wenn man sie nicht trägt.
Freitagabend. De Boschte wollen mich kennenlernen. Noch habe ich nicht allen die Hand gegeben, da halte ich einen Hammer in der Hand. Mit Nägeln befestige ich ein Schild auf einem Maibaum, mit Keilen den Maibaum im Boden. Ich habe nicht den Hauch einer Idee, was ich tue, aber ich tue es. Meine vorübergehende Wandlung in einen Schützen hat zwei Alt, ein paar Hammerschläge und höchstens drei Minuten gedauert.
Es gibt Toastbrot-Packungen für Singles und Seminare über Selbstverwirklichung, aber im Schützenwesen existiert nur die erste Person Plural: Wir. Während die Gesellschaft zerfällt, machen die Schützen einfach weiter. Sie teilen sich den Hühnerstall und räumen gemeinsam das Haus der verstorbenen Eltern aus. Es ist eine Organisation, die sich seit Jahrzehnten erfolgreich dem Zeitgeist widersetzt. Wie machen die das?
Eine Antwort heißt: Alkohol. Friedhelm hat mir gesagt: „Es geht nicht nur ums Saufen.“Er hat recht. Aber viel gesoffen wird schon.
Pfingstmontag, halb neun. Der König lädt alle Schützen zum Frühstück ins Festzelt. Knapp 900 Mann. Um fünf Uhr musste sein Zug antreten, Tische decken, Kaffee kochen, Brötchen schmieren. Doch bevor ich an die erste Brötchenhälfte gelange, bieten mir vier Leute Altbier an. Nach dem ersten Happen fließt Schnaps. Die Schützen greifen zu. Nicht zaghaft, sondern lustvoll. Gut Schluck. Peter sagt: „Irgendwann wirst du nicht mehr betrunken, da bist du betrunken.“
12.30 Uhr, Empfang mit dem Bürgermeister. Der Minister der Junggesellen – das sind die jüngeren Schützen – schläft auf einem Stuhl. Nicht mal ein Alphorn weckt ihn. Er wird später versichern, nicht mehr als drei Alt zum Frühstück getrunken zu haben, aber er wirkt, als sei es zwei Uhr in der Nacht zuvor.
Der junge Minister im blauen Gewand bekommt Ärger. „Wer Minister werden will, muss durchhalten“, schimpft einer. Es gibt neben der Biologie nur eine Sache, die dem Trinken Grenzen setzt: die Tradition.
Diese Tradition führt mich Samstag nach dem Friedhof in Friedhelms Garten. Der andere Friedhelm. Wir haben Maibäume aufgestellt, für ihn, den Offizier. Für Frank, den Zugkönig. Und für Hans Jürgen, den Seitenoffizier (Friedhelms Bruder). Erst gibt Friedhelm mir einen Schnaps, der sich Mümmelmann nennt, dann zeigt er mir seinen Stall voller Mümmelmänner. Meerschweinchen hat er auch. Kleine Schweinchen hätte er gerne. Im Garten wachsen grüner Spargel, Kartoffeln und Zucchini. Friedhelm sagt: Suttschini. Er weiß, wie man das Zeug richtig ausspricht. Aber warum sollte er das tun? Es ist sein Königreich. Okay, und das seiner Frau.
Frauen werden Bundeskanzlerinnen, irgendwann vielleicht sogar Priesterinnen in der katholischen Kirche. Aber in die St.-Sebastianus-Bruderschaft in Korschenbroich kommen sie nicht. „Das wurde noch nie ernsthaft diskutiert“, sagt Johannes. Da sind wieder die zwei Grenzen: Tradition und Biologie.
Für die Frauen meiner Schützenbrüder auf Zeit bedeutet Unges Pengste vor allem Arbeit. Sie bügeln die weißen Hosen, sie decken den Tisch, machen den Salat für das Grillen, reichen das Bier. Sonntagabend sitze ich mit den Frauen an einem Biertisch einer Kneipe in der Nähe des Festzelts. Sie fragen mich, wann dieser Text erscheint, ob mein Einsatz als Schütze als Arbeitszeit gilt. Ich frage sie, ob sie nicht lieber mit dabei wären, als nur am Tisch nebenan zu sitzen. Eine sagt: „Ja, klar. Ich wünsche mir schon, dass wir Frauen besser eingebunden werden.“Dann holt mich Hans Jürgen ab. Die Männer gehen ins Festzelt.
Ich gehöre zu diesen Männern. Immer mehr. Mit Friedhelm, Hans Jürgen und Frank laufe ich durch das enge Festzelt. Wir tragen dieselbe Uniform. Weiße Hose, grünes Sakko, grüner Hut, grüne Krawatte, Holzgewehr mit Blume im Lauf. Junge Frauen mit Tattoos und sehr kurzen Hosen tanzen zu „I Need a Dollar“von Aloe Blacc, was wahrscheinlich auch nur in Schützenzelten, am Ballermann und in AprèsSki-Hütten funktioniert. Sie sehen uns an, uns Männer in Uniform, De Boschte, wie wir uns an ihnen vorbeidrängen, als grüße das 21. Jahrhundert das 15.
Bevor ich an Pfingstsonntag im Stechschritt marschiere, die Nationalhymne singe, an winkenden Besuchern vorbeiziehe und mich wundere, wieviele Besucher da winken, sitze ich mit De Boschte auf Peters Terrasse. Seine Tochter grillt für uns, es gibt Würstchen, Steaks, Gewürzketchup und Couscoussalat mit grünem Spargel. Für viele ist diese Mahlzeit die letzte vor dem Feiern im Festzelt. Es ist 13 Uhr.
Neben mir am Tisch sitzt Hermann-Josef, passives Mitglied bei De Boschte. Wir reden über das Brauchtum, die Bedeutung des Glaubens für die Schützen und das Neubaugebiet „An der Niersaue“. Einfamilienhäuser werden da auf die grüne Wiese gesetzt, eine schöne Siedlung, aber irgendwie ein Fremdkörper. Korschenbroicher ziehen dort eher nicht ein, sondern Zuwanderer. Viele sind geflüchtet, aus der Großstadt Düsseldorf. Hermann-Josef legt die Stirn in Falten. „Wie sollen wir die hier integrieren?“, fragt er.
Dabei liegt die Lösung auf der Hand. Tradition und Alkohol. Müssen die Zuwanderer sich nur überwinden. So wie ich.