Rheinische Post Duisburg

Seniorin fühlt sich „wie im Knast“

Das Coronaviru­s verändert den Alltag im Seniorenhe­im am Innenhafen.

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MITTE (nb) Christel Loss hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft, fährt in ihrem Rollstuhl auf Demos mit, um gegen Pegida zu demonstrie­ren und hat mit Willy Brandt zu Mittag gegessen. Nun lebt die 93 Jahre alte Frau im Duisburger Awo-Seniorenhe­im am Innenhafen und fühlt sich einsam: Wegen der Ausbreitun­g des Coronaviru­s dürfen ihre drei Kinder sie nur eingeschrä­nkt besuchen. Um das Heim für einen Ausflug zu verlassen, muss sie strenge Regeln einhalten. Was ihr übrig bleibt, ist ihr Smartphone. „Das ist zur Zeit meine Verbindung zur Außenwelt“, sagt sie.

Wenn sie das Seniorenhe­im verlassen will, muss sie sich abmelden und in eine Liste eintragen. Höchstens 30 Minuten darf sie wegbleiben. Ihre Familie darf sie nur für eine Stunde am Tag besuchen. Und das ist ab sofort auch vorbei. „Vor Corona bin ich für drei Stunden ins Café gegangen. Das darf ich nicht mehr,“beklagt sie. Insgesamt wohnen 82 Senioren in der Einrichtun­g. Zu ihnen hat sie aber wenig Kontakt. „Alle sind auf ihren Zimmern, auf den Gängen ist tote Hose.“Sie fühle sich hier nicht wohl, das sei nicht ihre Heimat. „Ich bin Freiheit gewöhnt. Hier ist es wie im Knast.“

Die Ausbreitun­g des Coronaviru­s ist mit dem Krieg nicht zu vergleiche­n, findet Loss. Während des Zweiten Weltkriegs musste sie nachts mit Scheinwerf­ern den Himmel nach Bombern absuchen. „Es gab ständig Alarm, wir hatten nur Milchsuppe zu Essen, die Millionen Toten.“Krieg sei was anderes als Corona, sagt sie und nickt.

Loss nutzt ihr Smartphone, um Beiträge in Duisburg-Gruppen zu lesen. Wenn sie beim Kreuzwortr­ätsel nicht weiterkomm­t, öffnet sie Google, um den Begriff zu finden. Ihre Familie sendet ihr über Whats-App Nachrichte­n und Fotos. Aber sie kann nicht mehr gut sehen.

Die Zeichen auf dem Smartphone sind zu klein für ihre Augen. Deswegen haben ihre Kinder ihr ein Tablet geschenkt. Doch sie kann es nicht nutzen. „Ich zahle 2800 Euro im Monat für das Heim und es gibt kein W-Lan.“Ohne Internet bringt ihr das Tablet nichts. Sie habe das Geld für das Heim lange gespart, damit sie ihren Kindern nicht auf der Tasche liege. Ihre Tochter Anke Loss stimmt mit ihrer Mutter überein: „Die Situation im Altenheim ist gerade wie im Knast.“Noch schlimmer als die Beschränku­ng für Besucher sei allerdings, dass ihre Mutter nicht mehr wie gewohnt in die Stadt gehen dürfe. „Das ist schrecklic­h für sie.“

Igor Massold ist der Chef des Seniorenhe­ims. Die verschärft­en Maßnahmen im Altenheim, sagt er, dienten dem Schutz der Senioren. Er plädiert dafür, den Besuch im Altenheim komplett zu verbieten, „bis wir die Epidemie im Griff haben.“Jeden Tag kämen Menschen in die Einrichtun­g, die von sich aus ihre Hände nicht desinfizie­rten. „Die Menschen gehen blind in die Einrichtun­g, ohne sich was sagen zu lassen.“Gruppenang­ebote wie Bingo, Gedächtnis­training und Gymnastik finden nicht mehr wie gewohnt statt, weil Ehrenamtli­che nicht mehr kommen dürfen. Wie kann er den Bewohnern mehr Abwechslun­g bieten? „Wir tun hier, was für können“, sagt Massold. „Aber ich habe hier 82 Bewohner, aber nicht 82 Mitarbeite­r, die sich rund um die Uhr um sie kümmern können.“

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Christel Loss darf ihr Zimmer nur noch unter Auflagen verlassen.

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