Der Fall Heinsberg
Das Krisenmanagement der Landesregierung stößt im Kreis Heinsberg auf massive Kritik. Die Landesregierung beruft sich auf das Robert-Koch-Institut.
DÜSSELDORF Wissenschaftler und Politiker erheben massive Vorwürfe gegen die Landesregierung wegen ihres Corona-Krisenmanagements im Kreis Heinsberg. „Wir mussten leider die Erfahrung machen, dass in den Ministerien neben zahlreichen hochkompetenten Kräften auch sehr viele Hauptbedenkenträger sitzen“, sagte der Landrat des Kreises, Stephan Pusch (CDU), unserer Redaktion. In einer solchen Ausnahmesituation sei man auf die Hilfe der übergeordneten Ebenen angewiesen. Die seien aber überwiegend administrativ tätig gewesen, statt sich aktiv einzuschalten: „Anfangs hatten wir das Gefühl, der Kreis Heinsberg ist ein Schwimmer, der mitten auf dem See einen Krampf bekommt und um Hilfe schreit.“Das Land habe agiert wie ein Bademeister, der rufe: „Bist ja schließlich auch ohne Badekappe ins Wasser gegangen“und einem dann ein Buch mit dem Titel „Schwimmen lernen leicht gemacht“zuwerfe.
Der Kreis Heinsberg zählt mit 916 Fällen nach wie vor die meisten Infizierten pro Einwohner in ganz Deutschland. Dort wurden Ende Februar die beiden ersten Fälle bekannt. 11 Menschen sind dort bereits an dem Virus gestorben. Zuletzt verschlimmerte sich die Lage weiter: Die Leitung der Krankenhäuser warnte, dass es am Wochenende wegen fehlender Schutzkleidung zur Schließung der Einrichtung kommen könnte. Die Kliniken hätten ihren Zwei-Jahres-Vorrat binnen zwei Wochen aufgebraucht. Nachschub von Landesseite gebe es nur von Zeit zu Zeit, so der Landrat. Das NRW-Gesundheitsministerium verwies auf die originäre Zuständigkeit der örtlichen Behörden.
Der SPD-Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag, Thomas Kutschaty, sagte dazu: „Natürlich liegt die Verantwortung zunächst einmal bei den Kreisbehörden. Aber bei einer Pandemie ist ja klar, dass sich die Landesregierung einschalten muss. Stattdessen fand noch ein Fußballspiel im Gladbacher Stadion statt – nur wenige Kilometer von der Kreisgrenze entfernt.“
Das Fußballspiel stattfinden zu lassen, war auch aus Sicht von Jörg Timm, Professor für Virologie an der Universitätsklinik Düsseldorf, ein Fehler: „Ich hätte befürwortet, es abzusagen.“Ob die im Kreis Heinsberg ergriffenen Maßnahmen insgesamt ausreichend waren, sei fraglich. Den Verantwortlichen vor Ort könne man dafür jedoch keinen Vorwurf machen. Im Gesundheitsministerium hieß es: „Dies ist eine Entscheidung der Stadt Mönchengladbach gewesen.“
Dazu Landrat Pusch: „Wir als Kreis Heinsberg mussten ja rasch reagieren und haben zweieinhalb Wochen vor der landesweiten Anordnung die Schulen und Kitas geschlossen. Wenn dann zeitgleich wenige Kilometer entfernt ein Fußballspiel stattfinden darf, kommen Sie als Kreis schon in Erklärungsnot.“Da habe er sich konsequenteres Handeln von Land und Bund gewünscht. Auch habe er zum Beispiel früh gemeldet, dass das medizinische Material ausgehe. „Anstatt uns das Material zu beschaffen, bekamen wir dann einen Tag später den Hinweis, bei welchem Anbieter wir nachbestellen könnten.“
Auch die Bitte um Unterstützung durch die Bundeswehr sei zunächst ungehört verhallt, er habe die Hoffnung aber nicht aufgegeben: „Ich
„Auf Landesebene sah
man eine freiwillige häusliche Quarantäne als Angstmache an“ bin da vorsichtig optimistisch, dass die Bundeswehr uns doch noch unterstützt.“Die Armee verfüge nicht über zusätzliche Kapazitäten, hieß es dazu im Gesundheitsministerium. Am Freitagabend hieß es jedoch aus Bundeswehrkreisen, dass genau das geschehe – die Streitkräfte sollen mit Atemschutzmasken, Beatmungsgeräten und Kitteln helfen.
„Es zeigt sich jetzt meines Erachtens, dass die Regierung viel zu lange den Ernst der Lage nicht erkannt hat“, sagte auch der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Josef Neumann. Er sei wahrlich unverdächtig, ein Anhänger von Markus Söder zu sein, „aber die Bayern machen uns gerade vor, wie man konsequent und landeseinheitlich in einer solchen Situation verfährt“.
Der Zeitpunkt, zu dem die Landesregierung von den Erkrankungen erstmals erfuhr, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) äußerte sich widersprüchlich: Laut einem Plenarprotokoll vom 11. März 2020, das unserer Redaktion vorliegt, sagte der Minister: „Ich kann Ihnen die Stunde jetzt nicht sagen, aber es war am Rosenmontagabend, irgendwie so um 18, 19 Uhr.“Laumanns Ministerium teilte nun mit, es habe sich dabei um einen Versprecher
gehandelt: „Vielmehr war ‚Veilchendienstag’ gemeint.“Eine Anweisung am selben Abend seitens des Ministeriums sei nicht nötig gewesen, da der Kreis umgehend selbst einen Krisenstab eingerichtet habe.
Wie unterschiedlich die Einschätzung zum Ausbruch der Krise war, zeigt eine weitere Aussage des Landrats: „Nach meinem ersten Treffen im Ministerium haben wir im Krisenstab überlegt, ob nicht den Gangelter Bürgern grundsätzlich empfohlen werden sollte, sich bis zum 2. März in eine freiwillige häusliche Quarantäne zu begeben.“Ausgenommen werden sollten nur Rettungs-, Pflege- oder Ordnungskräfte. „Auf Landesebene sah man das aber offenbar als Angstmache an und wollte diese Formulierung nicht in der gemeinsamen Presseerklärung haben“, sagte Pusch. In der finalen Mitteilung hieß es dann lediglich, man solle sich an die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) halten. „Wenn Sie mich heute fragen, hätte ich damals vehementer für ein konsequenteres Vorgehen werben sollen“, meinte Pusch. Das Ministerium wehrte sich gegen den Vorwurf: Das RKI sei die fachliche Instanz, man habe sich an deren Empfehlungen gehalten.
Auf der Informationsgrundlage, die der Krisenstab damals hatte, habe man richtig gehandelt, sagt Pusch. „Das ist wie ein Polizist, der sich vor Gericht wegen des Gebrauchs der Dienstwaffe verantworten muss. Auch wir hatten nur Sekundenbruchteile, um uns zu entscheiden.“
Das sehen andere Experten wie der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Beschäftigten der Kommunen (Komba), Andreas Hemsing, genauso: „Die örtlichen Entscheidungsträger in Heinsberg haben aus meiner Sicht zum Zeitpunkt des Ausbruchs mit dem vorhandenen Infostand alles getan, was zu tun war.“
Eine zentralere Organisation hätte sich auch Landrat Pusch gewünscht: „Ich würde mir eine landesweite Koordinierungsstelle für die Krankenhäuser wünschen, angedockt an die Staatskanzlei. Die könnte dann beispielsweise nachhalten, wer wie viel Material hat, wer wie viele Intensiv-Kapazitäten hat.“
Dass sich der Krisenstab gegen eine Abriegelung im Falle Heinsberg entschieden habe, begründete eine Sprecherin des Gesundheitsamtes damit, dass bei Bekanntwerden der ersten Fälle schon klar gewesen sei, dass sich die Betroffenen noch vor Karneval infiziert hätten. Man sei also davon ausgegangen, dass das Virus sowieso schon gestreut habe.
Die Landesregierung wies die Vorwürfe zurück: Drei Tage nach Bekanntwerden des ersten Infektionsfalls habe es einen fortlaufenden Informationsaustausch mit den Kreisbehörden gegeben, unter anderem in regelmäßigen Lageberichten, aber auch in zahlreichen Gesprächen. Am 28. Februar sei Minister Laumann mit Ministerpräsident Laschet in den Kreis Heinsberg gefahren, um sich vor Ort einen Überblick zu verschaffen.
Unter anderem sei das Ministerium bereits in der Frage zusätzlicher ärztlicher Unterstützung durch Hilfsorganisationen aktiv geworden, hierdurch befinden sich derzeit eine Ärztin und neun Rettungsfachkräfte des DRK und eine Mitarbeiterin des RKI vor Ort. Zudem habe das Ministerium mehrfach die Lieferung von zusätzlichen Test-Kits, Atemschutzmasken und Schutzanzügen organisiert: „Angesichts der aktuellen Situation geht es aber nicht nur darum, einer einzelnen Kommune, sondern allen Kommunen im Land zu helfen, die bei der Beschaffung der Schutzausrüstung Unterstützung benötigen“, erklärte das Ministerium.
Landrat Kreis Heinsberg