„Die Menschen sind voneinander abhängig“
Der Soziologe glaubt, dass die Hilfsbereitschaft während der Corona-Krise den Solidargedanken in der Gesellschaft langfristig stärkt.
Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie an der Uni Kassel und hat mit „Gesellschaft der Angst“und „Solidarität“wichtige Analysen der Gegenwart vorgelegt.
Ist Corona der große Gleichmacher?
BUDE Nein. Allerdings schärft Corona das Bewusstsein dafür, dass jeder einzelne in der Gesellschaft mit anderen verbunden und auch von anderen abhängig ist. Jeder ist dem Virus ausgesetzt, unabhängig von seiner sozialen Klasse. Die Klassenfrage taucht aber sofort wieder auf, wenn es um Fragen des Home-Schoolings, der Wiedereingliederung nach der Isolation, der Gesundheit geht. Diese Diskussionen werden gerade mit einer seltsamen Empörung geführt. Natürlich gibt es weiterhin Klassenunterschiede und Milieus in unserer Gesellschaft, darauf hat das Virus ja keinen Einfluss. Empörung wäre aber erst angebracht, wenn es Ungleichheit bei der Behandlung von Covid-19-Patienten gäbe, so wie in anderen Ländern. In Deutschland gibt es dafür bisher aber keine Anzeichen, und dann sollte man das auch nicht herbeireden.
Werden wir nach Corona eine solidarischere Gesellschaft sein?
BUDE Davon bin ich fest überzeugt. Es ist nämlich in unser Bewusstsein getreten, dass wir eine äußerst komplexe Infrastruktur in unserer Gesellschaft haben, die lebensnotwendig ist, die aber sehr gering bezahlt wird. Das fängt mit der Pflege an und hört bei denjenigen auf, die in den Supermärkten die Regale vollräumen. Man kann diese Menschen nicht als systemrelevant erklären und sie nach der Krise, sollten wir sie ökonomisch einigermaßen gut überstehen, wirtschaftlich im Regen stehen lassen.
Aber über welche Mechanismen sollte es denn zu Gehaltssteigerungen kommen, wenn der Markt das auch bisher nicht hingekriegt hat? BUDE Das regelt nicht der Markt allein. Es gibt Mindestlohnregelungen, es gibt Bestimmungen, wie bestimmte Qualifikationen bezahlt werden müssen. Ich erwarte, dass die Gremien, die etwa über den Mindestlohn verhandeln, neu beraten werden.
Ist Corona die große Entzauberung der Globalisierung? Billiglöhne werden Unternehmen weiter locken, im Ausland zu produzieren. BUDE Die ökonomische Ratio wird durch das Virus nicht verändert. Aber Unternehmen werden eine neue Dimension bedenken: die Stabilität von Lieferketten in Krisenfällen. Das Virus legt gerade die höchste Irritierbarkeit sozialer Zusammenhänge offen. Aber die Auseinandersetzung über Handelsbeschränkungen, die Globalisierung von Migration, die globale Belastung durch den Klimawandel, all das steht auch vor Augen. Wahrscheinlich sind in den Versicherungen schon zahlreiche Menschen damit beschäftigt, solche Risiken zu quantifizieren. Und das werden auch die Unternehmen einpreisen. Das relativiert billige Löhne. Es wird auch Überlegungen geben dazu, welche Produkte essenziell sind, welche Lieferketten verkürzt werden müssen. Das wird Europa sehr beschäftigen.
Selbst Europa ist kein geschützter Wirtschaftsraum mehr – die Lkw stehen wieder an den Grenzen . BUDE Ja, es wird eine Debatte geben darüber, wie die Lieferketten innerhalb Europas abgesichert werden können. Wir importieren ja eher Billigprodukte wie Atemmasken aus Ländern wie China. Aber für die hochwertigen Produkte, die in Deutschland zusammengesetzt werden, stammen die Einzelteile aus Europa. Das wird also eine fundamentale Frage für Europa.
Die Mitgliedstaaten spüren, dass sie einander brauchen, und ziehen doch alte Grenzen wieder hoch. Wie passt das zusammen?
BUDE Solche Fragen haben mit Willen zu tun. Nichts, was in diesen Tagen geschieht, ist naturgegeben. Man kann die Probleme so oder so lösen. Das ist Politik. Das ist Handeln. Und das Handeln in Europa steht vor fundamentalen Veränderungen. Das Europa der Zukunft ist nicht ein Europa der Werte, sondern der Probleme. Die werden wir gemeinsam lösen müssen, wenn wir nicht untergehen wollen. Wir müssen uns immer klar machen, dass wir mittelfristig in Europa nur noch sechs Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.
Sie haben sich mit den Angstgefühlen jener deutschen Milieus beschäftigt, die auf Individualismus, Selbstverwirklichung, Eigenverantwortung setzen. Gerade diese Leute sind nun von der Krise betroffen. Wird die Angst zunehmen?
BUDE Wir haben Hotspots in der Summierung von Ängsten in der Gesellschaft. Diese Hotspots sind nicht identisch mit Klassen. Es gibt soziale Gruppen, die bisher dachten, sie kommen besser weg, weil sie schlau und geschickt sind. Die haben versucht, Sozialabgaben zu sparen oder 25 Jahre hart zu arbeiten und dann alles hinter sich zu lassen. Exit-Kapitalismus hat man das genannt. Diese Gruppen, die sich mit Ideen des sozialen Trittbrettfahrertums aus der Solidargemeinschaft abgemeldet haben, merken jetzt, wie sehr sie auf Leistungen angewiesen sind, die aus Steuern finanziert werden. Und die von Menschen erbracht werden, auf die sie bisher herabgeschaut haben. Interessant ist zum Beispiel, wie diese Milieus im Moment auf das Home-Schooling reagieren.
Es sind die Menschen, die eigene Kreativarbeit daheim nun mit 24-Stunden-Kinderbetreuung kombinieren müssen.
BUDE Ich vermute, die Isolationsmüdigkeit ist in diesen Milieus besonders stark, weil sie sich damit überfordert fühlen, Heimarbeit und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen. Aber vielleicht ist es sogar ganz heilsam, wenn alle in der Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern ein Gefühl dafür bekommen, was es braucht, zusammen die Dinge geregelt zu bekommen.
Welche langfristigen Folgen wird das haben?
BUDE Es geht um die Frage der Geltung unterschiedlicher Modelle von Lebensführung. Menschen sind dann über bestehende Ungleichheiten empört, wenn sie beim Vergleich mit anderen, die unter ähnlichen Bildungs- oder Herkunftsvoraussetzungen gestartet sind, schlecht abschneiden. Das macht wütend. Aber womöglich lassen einen nach Corona gewisse Vergleiche kalt. Will ich wirklich zu den Oberschlauen gehören, die mitnehmen, was möglich ist, oder zu den Abgebrühten, die vom Mißtrauen leben? Es wird eine Diät des Vergleichens geben. Das ist keine Rückkehr zu einer neuen Zufriedenheit oder dergleichen. Aber es wird ein neues Gespür dafür geben, dass wir nur verbunden mit anderen leben können. Auch mit Menschen, auf die wir vielleicht heimlich herabgeblickt haben, weil sie schlechter qualifiziert sind oder einen gewissen Phlegmatismus mit ihrer Gesundheit an den Tag legen. Ich vermute, der Staat nach Corona wird ein stärkerer Staat sein – der den inneren Zusammenhang von Wirtschaft- und Sozialpolitik zum Ausdruck bringt.
Es gibt bereits zahlreiche Zeichen gelebter Solidarität, wenn Nachbarn beispielsweise für ältere Menschen einkaufen. Oder ist das rein äußerlich?
BUDE Nein, ich denke, darin zeigt sich, dass Menschen anerkennen, dass sie voneinander abhängig sind. Das ist nicht mehr Mildtätigkeit von oben nach unten. Das ist die Bereitschaft wechselseitiger Hilfe auf derselben Ebene. Eine gute Voraussetzung für eine gemeinsame Zukunft.