Im Schatten der Pandemie greift der IS wieder an
BAGDAD Gut ein Jahr nach der Zerstörung seines „Kalifats“ist der Islamische Staat wieder da. IS-Trupps tauchten vor wenigen Tagen rund 50 Kilometer nördlich der irakischen Hauptstadt auf und töteten mindestens zehn Kämpfer der irakischen Miliz PMF, die im Jahr 2014 für den Kampf gegen die Dschihadisten gegründet wurde. Der Angriff war keine Einzelaktion. In mehreren Gegenden von Irak und Syrien ist der IS wieder auf dem Vormarsch. „Langsam und methodisch“gehe die Terrormiliz bei ihrer Rückkehr vor, sagt der amerikanische IS-Experte Charles Lister. Der Islamische Staat hat aus früheren Niederlagen gelernt – und profitiert von der Schwäche seiner Gegner.
Als die Extremisten im März 2019 den letzten Rest ihrer Bastionen im syrisch-irakischen Grenzgebiet nach einer Offensive der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition aufgeben mussten, zogen sich viele Kämpfer in die Wüstenregion Badia zurück. Auch den Tod ihres Anführers Abubakr al Bagdadi bei einem US-Angriff auf sein Versteck in Syrien im Herbst überlebte die Organisation. US-Geheimdienste haben den früheren irakischen Armeeoffizier Amir Mohammed Abdul Rahman al Mawli als neuen IS-Chef identifiziert.
Die Wüste Badia ist ein idealer Rückzugsraum für den IS. Das riesige Gebiet von einer halben Million Quadratkilometern ist nur dünn besiedelt und reicht vom Süden Syriens bis zum Euphrat im Irak. Die syrische Regierung habe seit dem vergangenen Jahr versucht, den Islamischen
Staat an einem Ausbruch aus der Wüste zu hindern, schrieb Lister, Terrorismus-Fachmann beim Nahost-Institut in Washington, in einer Analyse. Dieser Versuch sei gescheitert, weil die Armee von Präsident Baschar al Assad andere Prioritäten habe: Assad versucht derzeit, die Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten Syriens zu erobern.
In den Wintermonaten verhielt sich der IS relativ ruhig, doch seit dem Beginn des Frühjahrs und dem Ausbruch der Corona-Pandemie geht die Terrormiliz wieder in die Offensive. Anfang April musste die russische Luftwaffe eingreifen, um einen IS-Angriff in der syrischen Wüstenstadt Al Sukhna zurückzuschlagen. Ende des Monats töteten die Dschihadisten mindestens sieben syrische Soldaten in einem Hinterhalt.
Im benachbarten Irak ist der IS inzwischen noch stärker. In der Provinz Kirkuk griffen die Dschihadisten im April dreimal so häufig an wie im März. Der irakische Sicherheitsexperte Hischam al Haschemi sagte, die Gefechte hätten ein Ausmaß erreicht, „das wir schon lange nicht mehr erlebt haben“. In den Dörfern um die Stadt Bakuba nordöstlich von Bagdad terrorisieren IS-Kämpfer die Bauern, wie ein örtlicher Clanchef sagte: Es sei wie beim Höhepunkt der IS-Feldzüge im Jahr 2014. Rund 3000 IS-Kämpfer soll es inzwischen wieder im Irak geben. Sie greifen häufig in der Nähe von Fernstraßen an, die sie anschließend für den Schmuggel oder zur Erpressung von „Mautgebühren“nutzen. Bis zu 2,8 Millionen Euro im Monat nehme der IS damit ein, meldete die US-Denkfabrik CGP.