Im Würgegriff des Virus
In Brasilien schlägt die Corona-Pandemie mit voller Wucht zu. Die Regierung aber hat eher wirtschaftliche Interessen im Blick.
RIO DE JANEIRO „Das Schlimmste ist“, sagt Fleury Johnson, „dass wir den Menschen nicht so helfen können, wie es eigentlich notwendig ist.“Johnson, 28, Arzt, arbeitet in der UPA Mesquita, einer medizinischen Erstaufnahme-Station in Rio de Janeiro in der Baixada Fluminense, dem breiten Gürtel von Armenvierteln. Dort ist, wie sie in Rio sagen, das wirkliche Brasilien zu Hause. Dort ist alles anders als in den weltberühmten, reichen Vierteln Ipanema oder Copacabana.
An der Betonwand der UPA führt ein Geländer zum einzigen Eingang für alle Patienten. „24 Stunden Betreuung“steht auf der Mauer. Das Coronavirus ist hier mit voller Wucht angekommen. Es stellt Johnson vor eine riesige Herausforderung.
„Es gibt bei uns viele Patienten, die mutmaßlich an Covid-19 erkrankt sind“, sagt er. Es gebe viel zu wenig Beatmungsgeräte für viel zu viele Patienten – und viel zu wenig Intensivbetten. Eigentlich ist Johnsons Station nur die erste Anlaufstelle. Doch wohin mit den Menschen? „Die Patienten bleiben einfach. Uns gelingt es nicht, einen freien Platz in den Krankenhäusern zu finden. Wir haben einfach nicht genug Unterstützung.“
Die Zustände in der UPA sind besorgniserregend. Es gibt keine Trennung zwischen Patienten mit Grippe-Symptomen und Patienten, die wegen anderer Erkrankungen kommen. Viele haben nicht einmal einen Mund-Nasen-Schutz. So kann sich das Virus weiter ausbreiten. „Es macht mich wirklich traurig, dass wir die Menschen nicht so behandeln können, wie das notwendig wäre“, sagt Johnson.
Was das Personal in der UPA Mesquita erlebt, ist in Brasilien inzwischen Alltag. Gesundheitsstationen und Krankenhäuser beginnen zu kollabieren. Inzwischen hat das Land offiziell mehr als 200.000 registrierte Infektionen und mehr als 15.000 Tote. Das ist zwar im Vergleich zur Bevölkerungszahl von fast 210 Millionen noch vergleichsweise überschaubar, aber in den vergangenen Tagen stiegen die Zahlen rasant an. Niemand weiß, ob Brasilien auf eine riesige Katastrophe zusteuert oder, ob vielleicht die Spitze der Kurve schon erreicht ist.
Dramatisch ist auch die Lage in der Amazonas-Region. Allein in der Metropole Manaus ist die Zahl der Toten auf über 1000 gestiegen. Doch das Misstrauen in die Statistiken ist groß. „Die eigenen Zahlen, die wir als indigene Bewegung bislang kennen, sind weitaus höher als die, die die offizielle Behörde bekanntgibt”, sagt Sonia Guajajara.
Guajajara, 46, ist Koordinatorin der Vereinigung der indigenen Bevölkerung
Brasiliens und gehört zu den prominentesten Aktivistinnen für die Rechte der Ureinwohner. Sie nennt die Schwierigkeiten „immens und tragisch“für die indigene Bevölkerung, die dem Virus schutzlos ausgeliefert sei. Die für die Gesundheit der indigenen Bevölkerung zuständigen Behörde SESAI müsse Maßnahmen ergreifen, um die Ureinwohner zu schüt- zen. „Es muss endlich Gesundheitszentren geben, die den Menschen medizinische Behandlung zukommen lässt“, sagt sie. „Es ist notwendig, Krankenhäuser zu bauen, um den indigenen Völkern endlich eine Grundversorgung zu ermöglichen. Besonders in der Amazonas-Region, wo das Gesundheitssystem bereits zusammengebrochen ist.“
Fast nebenbei führen Brasiliens Indigene einen weiteren Kampf. „Wir dürfen bei all der dramatischen Entwicklung nicht vergessen, dass die Abholzung des Amazonas immer weiter voranschreitet.“Illegale Holzfäller dringen ein und bringen so auch das Virus mit. Die Regierung scheint das nicht zu interessieren. Präsident Jair Messias Bolsonaro sei gegen die Menschenrechte, gegen die Indigenen und gegen den Umweltschutz: „Er verfolgt eine zerstörerische Politik. Er hat den Völkermord in Brasilien institutionalisiert“, sagt Guajarara. In Brasilien wächst die Zahl derer, die die Tatenlosigkeit der Regierung gegenüber der Corona-Ausbreitung am Amazonas als gewollt bezeichnen.
Tatsächlich treibt die Corona-Pandemie die Polarisierung des Landes voran. Inzwischen gibt es zwei Lager.
Da gibt es Bolsonaro, der die Gefahr der Pandemie lange unterschätzt und verharmlost hat und für eine Öffnung des gesellschaftlichen Lebens wirbt, und da gibt es die, die für eine rigorose Bekämpfung des Virus sind. Manchmal treffen die Lager aufeinander wie jüngst bei einer Demonstration in Brasília, als Mitarbeiter des Gesundheitswesens auf die Opfer in den eigenen Reihen aufmerksam machten. Mit schwarzen Holzkreuzen, auf denen die Namen der erkrankten Ärzte und Pfleger zu lesen waren. Sie werden von Bolsonaro-Anhängern attackiert, beschimpft und als Lügner dargestellt. Das Bolsonaro-Lager
wiederum veranstaltet Autokorsos, um ein „Zurück zur Arbeit“zu fordern. Auch sie sehen viele Mittelfinger von Passanten. Der Riss durch die Gesellschaft wird immer tiefer.
Der Präsident ist daran nicht unschuldig. Entgegen den Ratschlägen der Mediziner mischt er sich immer wieder unter das Volk, verursacht Menschenansammlungen und verspottet jene Medien, die kritisch über die Ausbreitung des Virus berichten. „Ich heiße zwar Messias, kann aber keine Wunder vollbringen“, sagte er jüngst.
In seinem eigenen Kabinett kam es deshalb zu einem Machtkampf. Gesundheitsminister Luiz Mandetta, der auf wissenschaftliche Kriterien bei der Bekämpfung der Pandemie setzte und für Konaktsperren warb, verlor die Auseinandersetzung gegen Bolsonaro. „Ich werde mein Volk nicht in die Armut führen, nur um das Lob der Medien zu erhaschen“, sagte Bolsonaro.
Während die Gouverneure und Bürgermeister teilweise harte Ausgangsbeschränkungen durchsetzten und so das wirtschaftliche Leben außer Kraft setzten, präsentiert sich Bolsonaro als Anwalt der Händler. In dieser Woche erklärte er Fitnessstudios, Schönheitssalons und Barber-Shops für systemrelevant, wohlwissend dass sie zur Lebenskultur zählt. Das macht es für die Gouverneure noch schwerer, ihren Kurs durchzusetzen. Denn an der Basis wächst die Angst vor dem Ruin.
Bolsonaro braucht diesen Kampf gegen die eigenen Institutionen auch, um sich aus einer innenpolitischen Krise zu befreien. In den vergangenen Wochen verlor der Präsident in Mandetta und Justizminister Sergio Moro zwei populäre Minister, die vor allem das klassisch konservative Wählerpotential ansprachen. Hinzu kommt eine brisante Auseinandersetzung um eine mutmaßliche Einmischung des Präsidenten in die Angelegenheiten der Bundespolizei – ermittelt wird gegen Bolsonaros Söhne. Immer mehr Politiker fordern eine Amtsenthebung Bolsonaros, doch das birgt auch die Gefahr, dass sich der Präsident als Opfer inszenieren kann. Mit seiner Öffnungsdiskussion versucht Bolsonaro, all diese Probleme von den Titelseiten zu verdrängen. Und seine Sichtweise, Geschäfte und Handel wieder hochzufahren, gewinnt mehr und mehr Anhänger.
Für solche Debatten hat Fleury Johnson, der Arzt in der UPA in Mesquita, keine Zeit. Er kämpft nicht nur mit der Pandemie, sondern auch mit der eigenen Sicherheit. Seine Schutzausrüstung sei unsicher und unzureichend. Er sagt: „Jeden Tag, den ich zur Arbeit gehe, weiß ich, dass das was vor Ort passiert, viel schlimmer ist, als das was in den Medien ankommt.“
„Wir haben einfach
nicht genug Unterstützung“