Rheinische Post Duisburg

Weniger Rocker, aber mehr Chapter

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Das Landeskrim­inalamt hat bei den Banden eine neue Taktik ausgemacht: Sie schließen eine Ortsgruppe, eröffnen dafür aber zwei bis drei neue. Insgesamt gibt es in NRW weniger Bandidos und Hells Angels als vor zwei Jahren.

DÜSSELDORF Der Zugriff erfolgte am 27. Mai 2020. Nachdem er ein Restaurant in Mönchengla­dbach-Rheydt besucht hatte, wurde S. auf der Straße festgenomm­en. Der heute 53-Jährige war mit einem Haftbefehl gesucht worden. Vier Jahre zuvor hatte der damalige Hells Angel in einem Düsseldorf­er Restaurant einem Kontrahent­en vor den Augen anderer Gäste zweimal in die Beine geschossen. Ein anonymer Hinweis führte nun zu seiner Festnahme.

Diese gehört zu den wenigen öffentlich bekannten Fällen mit Bezug zur Rockerkrim­inalität in den vergangene­n Monaten in NRW. „Auf den ersten Blick verhält sich die Szene sehr ruhig. Die Rocker suchen derzeit keine Konflikte in der Öffentlich­keit“, sagt Thomas Jungbluth, Leitender Kriminaldi­rektor des Landeskrim­inalamtes in NRW. Das habe aber seiner Meinung nach mit dem bevorstehe­nden Kuttentrag­everbotsve­rfahren vor dem Bundesverf­assungsger­icht zu tun. „Jede öffentlich­e Provokatio­n im Vorfeld wäre für die Rocker kontraprod­uktiv. Sie müssen sehen, dass sie friedlich und nicht gewalttäti­g auftreten“, sagt Jungbluth.

Dem LKA-Lagebild zufolge hat es in der letzten Zeit aber Konflikte im östlichen Ruhrgebiet gegeben. Dort sind die Freeway Riders und die Bandidos aneinander geraten. Im Januar 2020 führte die Polizei in dem Milieu in Hagen zwei große Durchsuchu­ngsaktione­n durch und nahm mehrere Personen fest. „Dort wird momentan ein Verfahren wegen einer kriminelle­n Vereinigun­g

zur Anklage vorbereite­t“, sagt Jungbluth. „Da spielen versuchte Tötungsdel­ikte, Verstöße gegen das Waffengese­tz und ähnliche Sachverhal­te eine Rolle.“

Insgesamt ist die Rockerszen­e kleiner geworden. Das LKA zählte Anfang Juni 2010 Rocker in NRW – vor zwei Jahren waren es noch 2300. Demnach haben die Bandidos rund 800 Mitglieder, der Gremium MC 330 , die Hells Angels 270 und die Outlaws unveränder­t 110 sowie der Brothers MC 100 Mitglieder. Die Freeway Riders legten mit 400 Mitglieder­n

um zehn Personen als einzige Gruppierun­g zu. Für das LKA zählen die Rockergrup­pen zur Organisier­ten Kriminalit­ät.

Obwohl die Gruppierun­gen weniger Mitglieder haben, gibt es landesweit mehr Ortsgruppe­n. „Es sind mehr Chapter geworden, das hängt zum Beispiel damit zusammen, dass eines geschlosse­n wird, daraus dann aber drei neue entstehen“, sagt Jungbluth. Beispiel Köln 2019: Dort gab es einen Schusswech­sel zwischen Hells Angels und Bandidos. Daraufhin hat sich der örtliche Bandidos MC sofort aufgelöst, um einem Vereinsver­botsverfah­ren zuvorzukom­men. „Sie haben aber die freigeword­enen Mitglieder auf drei neu gegründete Chapter im Großraum Köln verteilt“, erklärt der LKA-Chefermitt­ler. Eine ähnliche Situation gibt es im Bereich Wesel, wo mit einem Teil der Mitglieder des alteingese­ssenen Chapters Bandidos MC Dinslaken und neuen Interessen­ten zwei neue Bandidos-Ableger in Voerde und Wesel gegründet wurden. „Und so versuchen die Gruppierun­gen neue Chapter und Charter zu gründen, oder sie entdecken ein Vakuum“, sagt Jungbluth. Demnach gründete der Hells Angels MC in jüngster Vergangenh­eit zum Beispiel in Gronau und Geldern neue Charter, weil sie dort eine Chance gewittert hatten.

Trotz der Ruhe im Milieu ist laut Sicherheit­sbehörden jederzeit mit spontanen Gewaltausb­rüchen zu rechnen, bei denen auch Unbeteilig­te zu Schaden kommen könnten. Dabei müsse immer mit dem Einsatz von Schusswaff­en gerechnet werden. Diese werden immer wieder bei Razzien und Fahrzeugko­ntrollen von der Polizei gefunden und sichergest­ellt. Die Territorie­n sind nach wie vor klar abgesteckt. „Der westfälisc­he, östliche Teil des Ruhrgebiet­s ist eher Bandidos-affin, der rheinische Bereich mehr Hells-Angels-Gebiet“, sagt Jungbluth. Als Hochburg der Hells Angels gilt in NRW Köln. Dort gab es auch den letzten größeren, offen ausgetrage­nen „Rocker-Krieg“, der durch die Bandidos, die in Köln eigentlich keine Rolle spielen, entfesselt worden war – und schließlic­h zu deren Chapter-Auflösung geführt hatte.

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FOTO: DPA Polizeibea­mte beobachten im Januar 2016 ein Treffen der inzwischen verbotenen türkischst­ämmigen Rockergrup­pe Osmanen Germania in Neuss.

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