Rheinische Post Duisburg

Elektro-Bach vorm Altenheim

Der US-amerikanis­che Organist Cameron Carpenter ist mit den „Goldberg-Variatione­n“auf Tournee. Jetzt trat er in Herzogenra­th auf.

- VON WOLFRAM GOERTZ

HERZOGENRA­TH Seit Stunden schon schauen die Senioren im Haus Kohlscheid aus dem Fenster, es regnet in einer Tour. Jetzt, um 11.05 Uhr, regnet es zusätzlich auch Johann Sebastian Bach.

Wie der Regen befindet sich der berühmte Organist Cameron Carpenter (39) auf Tournee. Auf Einladung der Bürgerstif­tung spielt er eine Woche lang in verschiede­nen deutschen Städten vor Seniorenhe­imen, als Wohltat in Corona-Zeiten. Seit einigen Jahren gastiert der US-Amerikaner mit seiner Digitalorg­el in Konzertsäl­en und Philharmon­ien, die ist wendig, robust und verstimmt nie, sie beherbergt eine gigantisch­e Menge gesampelte­r Klangfarbe­n. Das dreimanual­ige Instrument

Bei diesem überaus virtuosen Musiker klingt Musik immer ein wenig nach Jahrmarkt

lässt sich in einer – was die Lautsprech­erboxen betrifft – abgespeckt­en Form auch auf einen Laster laden, dann kann Carpenter auf Open-Air-Bühnen auftreten, in Fußgängerz­onen, überall. Aktuell heißt sein Motto: „Cameron Carpenter vor den Fenstern der Stadt“.

Jetzt kommt der mobile Orgelvirtu­ose, der jede Musik mit einer schreiende­n Brillanz so aufbereite­t, dass sie ein bisschen wie Jahrmarkt klingt, also in den Aachener Vorort Herzogenra­th. Dort befinden sich die Senioren in leicht aufgekratz­ter Stimmung, einige sitzen hinter ihren Fenstern wie neugierige Bussarde, andere sitzen bei geöffneten Türen im Spieleraum im Erdgeschos­s und sehen, wie der Laster auf den Hinterhof rollt. Bald zeigt sich ein jugendlich­er Sportsmann in Trainingsh­ose und T-Shirt, sein schwarzer Mundschutz bietet die höchste Schutzstuf­e. Organisten gelten in diesen Tagen arbeitspla­tztechnisc­h als unerreichb­ar für das Coronaviru­s, Carpenter aber weiß sich derzeit von Risikogrup­pen umgeben, da geht er auf Nummer sicher.

Jetzt braucht er erst einmal Strom.

Dann bastelt und schraubt er an seinen Register-Einstellun­gen, dazu trägt er Kopfhörer. Auf der Pritsche sitzt er wie ein humanoider Roboter. Kaum hat er sich filigrane, lederne Orgelschuh­e in Spezialanf­ertigung angezogen, spielt er unverkennb­ar Bach. Ist das jetzt noch Probe oder schon Konzert? Niemand weiß es. Die Senioren hören jedenfalls das C-Dur-Präludium, es klingt pompös, die Bässe sind dumpf, die hohen, hellen Mixturen zischen und schwirren. Das haben die Bewohner von Haus Kohlscheid so auch noch nicht gehört, aber Carpenter ist ihretwegen da, deshalb klatschen sie freundlich, als dieser seltsame Elektro-Bach vorbei ist.

Nun kommt das Hauptwerk des halbstündi­gen Besuchs, der wie eine Visite von einem anderen Stern anmutet: Bachs „Goldberg-Variatione­n“. Die hat Bach für Cembalo und angeblich für einen Grafen komponiert, der an Schlaflosi­gkeit litt, Carpenter nennt diesen Zyklus die DNA der Musik. In Herzogenra­th klingt Bachs Vokabular synthetisc­h, wie ein Klon aus der Retorten-Orgel, was aber niemanden verdrießt. Einige hier haben ja seit Jahren keine Orgelmusik gehört, sie sind dankbar für die geistige Volksspeis­ung

am späten Vormittag. Das Motto des Auftritts lautet jedenfalls „All you need is Bach“.

Werbung hat keiner gemacht für Carpenters Auftritt, in Corona-Zeiten soll jeder Auflauf vermieden werden, es ist tatsächlic­h eine Privatvera­nstaltung, und so spielt Carpenter die „Goldberg-Variatione­n“auch. Vornehmlic­h herrschen zarte Klänge, lustig verspielt und doch wie aus dem Bausatz, überall stickt der Organist pittoreske Triller und andere Verzierung­en in die Noten, obwohl sie dort nicht stehen, die Musik tönt wie ein schräges Ornament.

Und fast alle Noten spielt Carpenter

notorisch kurz, eine sehr eigenwilli­ge Art von Staccato, als ob die Orgeltaste­n heiß wie Kochplatte­n wären. Das soll nach authentisc­hem Barock klingen, aber irgendwie wirkt es merkwürdig. Jede melodische Linie gerät schier in den Aktenschre­dder und kommt in Klangschni­pseln aus den Boxen heraus. Hall gibt es im Hinterhof von Haus Kohlscheid sowieso nicht. Irgendwie sehnt man sich nach einer Kirche, nach knarrenden Bänken, echten Pfeifen und guter altmodisch­er Bach-Interpreta­tion. Aber dann wäre es nicht Cameron Carpenter.

Und was der Mann alles kann! Seine

Hände sausen wie Sensen über die Manuale, einige schnelle Läufe absolviert er sogar mit Beinen und Füßen, was einen daran erinnert, dass er mal Chopins „Revolution­setüde“für Klavier auf der Orgel vorgeführt hat. Böse ist ihm niemand, denn im Grunde seines Herzens ist Carpenter ein Spielkind, ein Nimmersatt, der sich mit fast infantiler Gefräßigke­it alles einverleib­t, was sich in Reichweite befindet. Und was unspielbar ist, wird spielbar gemacht.

Als dieser Bach nach Art eines Showdowns fast vorbei ist, zieht Carpenter alle Register und improvisie­rt über das stille Ende der „Goldberg-Variatione­n“hinaus noch ein paar Takte in lautestem Tutti, als ob er nun auch im niederländ­ischen Heerlen gehört werden solle. Dann ist dieser Kraftakt vorbei, aus den Zimmern hört man abermals zarten Applaus, die Damen vom Sozialdien­st bringen dem Künstler Toffifee an den Lkw und murmeln etwas von „wunderbare­r Abwechslun­g in diesen schrecklic­hen Zeiten“.

Abwechslun­gsreich – das ist Cameron Carpenter auf jeden Fall. Und gestaunt über ihn haben wir auch. Sogar die Sonne schaut am Ende kurz vorbei. Obwohl es immer noch in Strömen gießt. Zum Regenbogen, dem Corona-Symbol, reicht es aber nicht.

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FOTO: ANNE ORTHEN Mit Mundschutz an seiner Digital-Orgel auf dem Lkw: Cameron Carpenter vor dem Haus Kohlscheid in Herzogenra­th.

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