Auf der Bremse
BERLIN Was hat Angela Merkel nicht alles versucht. „Die Lage ist ernst!“, „Bitte, bleiben Sie zu Hause!“, „Verzichten Sie auf jede Reise, jede Feier, die nicht zwingend notwendig ist!“– die Deutschen erleben in der Corona-Krise eine Seite der Kanzlerin, wie sie sie zuvor in den 15 Jahren ihrer Amtszeit nicht kennengelernt haben. Bitten, Mahnungen, Warnungen. Die sonst gern so sachliche Physikerin plötzlich mit viel Emotion in einer Krise, die sie für ein furchtbares Unglück hält, für die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Aber nun muss der 66-Jährigen der Geduldsfaden gerissen sein. Schon ihr Podcast am Samstag, in dem sie einfach ihren Podcast aus der Vorwoche wiederholte und voranstellte, dass ihr schlicht nichts Besseres einfalle, war ein Hinweis darauf. Das wäre so, als wenn Journalisten ihren Kommentar von neulich noch mal drucken, weil sie finden, dass sie damit bereits recht hatten und es müßig ist, das nur noch mal anders aufzuschreiben. Von drohendem „Unheil“hatte sie in den vergangenen Wochen gesprochen und über zu weiche Maßnahmen geschimpft.
Merkel war es offensichtlich jetzt leid, wie eine Mutter dem unvorsichtigen Kind mit immer neuen Beschreibungen zu erklären, dass die Herdplatte verdammt heiß ist. Deshalb betonte sie, dass „Wort für Wort“gelte, was sie in der Vorwoche gesagt habe. Etwa dieses: „Jeder Tag zählt.“An jedem neuen Tag schnellte die Zahl der Neuinfektionen dann aber weiter in die Höhe. 15.000 waren es am Mittwoch, die Zahl der Toten stieg innerhalb von nur zwei Wochen auf mehr als das Doppelte. Das übertrifft sogar Merkels schlimmste Befürchtungen.
„Wenn es bei diesem Tempo bleibt, kommen wir an unsere Leistungsgrenzen“, warnt sie deshalb am Mittwochabend nach der Videoschalte mit den Ministerpräsidenten. Es müsse dringend verhindert werden, dass es zu einem nationalen Notstand des Gesundheitssystems komme. Das wichtigste Instrument zur Eindämmung der Pandemie sei die Nachverfolgung der Kontakte. Aber diese funktioniere an vielen Stellen nicht mehr. Bei 75 Prozent der Fälle „wissen wir nicht mehr, woher die Infektionen kommen“.
Deswegen haben die Regierungschefin und die Ministerpräsidenten, die lange genervt von Merkels Strenge waren, nun gemeinsam die Bremse
reingehauen. Sie vereinbarten die Rückkehr zu massiven Kontaktbeschränkungen, um die Gefahr der Ansteckung zu verringern.
Auch Thüringen will diesen Weg mitgehen, hat sich aber als einziges Bundesland vorbehalten, zuerst das Parlament zu befragen. Am 30. Oktober soll eine Sondersitzung stattfinden. In einer Protokollnotiz unter den Beschlüssen von Bund und Ländern steht, dass die Verabschiedung nicht richtungsweisend für das parlamentarische Verfahren in dem Bundesland sei. Eine Zustimmung
des Parlaments galt allerdings am Abend als sicher.
„Wir brauchen noch einmal eine nationale Kraftanstrengung, eine befristete Kraftanstrengung“, appelliert Merkel. Sie spricht von harten, belastenden Maßnahmen für das gesamte Land. „Es ist heute ein schwerer Tag für politische Entscheidungsträger“, betont sie. In etwa zwei Wochen sollen die Maßnahmen überprüft werden. Merkel hofft auf Verständnis der Bürger. Sie weiß nur zu gut, wie umstritten die Entscheidungen sind.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) ist derzeit Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK). Seine Landespartei will am Samstag einen neuen Vorstand wählen. Dazu soll ein Parteitag mit 278 Delegierten zusammenkommen. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey kandidiert. Wo bleibt die Vorbildfunktion? Müller kündigt noch in der Pressekonferenz ein Überdenken dieser politischen Veranstaltung an.
CDU und Linke im Bund haben zwar mehr Delegierte als die Berliner
SPD, aber sie haben ihre Wahlparteitage mit erheblichen Schwierigkeiten bereits abgesagt, um der Corona-Politik Glaubwürdigkeit zu verleihen. Der Streit in der CDU, deren Kandidat für den Vorsitz, Friedrich Merz, die Absage der Wahl als gezielten Schlag aus der Parteispitze gegen sich und nicht als Folge der Corona-Pandemie bewertet, geht heftig weiter. Die Junge Union teilte mit, dass der Landesverband Sachsen-Anhalt ihren beim Parteitag in Leipzig vor einem Jahr abgelehnten Vorschlag aufgenommen und beim Bundesvorstand die Prüfung einer Urwahl beantragt habe.
Die Sorge von Regierungen in Bund und Ländern ist aber nicht, dass die CDU bis Weihnachten einen neuen Vorsitzenden hat, sondern dass die Menschen im Land wenigstens gemeinsam Weihnachten feiern können. Denn das mag sich keiner vorstellen: harte private Kontaktbeschränkungen, wenn die Sehnsucht vieler Menschen nach Zusammensein und innerem Frieden im Jahr am größten ist.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CDU) versucht, Mut zu machen. Es dürften die Fehler zu früher Lockerungen nicht wiederholt werden, warnt er. Aber bei allem Schwermut gebe es Grund zum Optimismus. Es handle sich diesmal um einen „milderen Lockdown“, Impfstoffe seien in Arbeit. Deshalb, erklärt Söder: „Es gibt auch ein Morgen.“
Damit die Menschen im Corona-Jahr wenigstens Weihnachten gemeinsam feiern können, gelten ab Montag wieder massive Kontaktbeschränkungen.