Jugendstil gewinnt
Borussia Dortmund hat die Entwicklung großer Talente zum Geschäftsmodell erhoben. In dieser Saison wird das besonders sichtbar. Die aktuellen Erfolge mit Torjäger Erling Haaland zeigen, dass es der richtige Weg ist.
DORTMUND Als Schiedsrichter Bastian Dankert im menschenleeren Berliner Olympiastadion das Bundesligaspiel zwischen Hertha BSC und Borussia Dortmund abpfiff, da standen im BVB-Trikot Youssoufa Moukoko (16), Jude Bellingham (17) und Giovanni Reyna (18) auf dem Rasen. Erling Haaland (20) durfte sich seit ein paar Minuten auf der Ersatzbank von seinen vier Toren erholen, Jadon Sancho (20) hatte sich das gesamte Spiel dort für größere Aufgaben ausruhen können. Die erweiterte Juniorenmannschaft aus Westfalen belegt in der Bundesliga Platz zwei, ihre Champions-League-Gruppe führt sie vor dem Spiel gegen Club Brügge (Dienstag, 21 Uhr, Dazn) an.
„Bayern München ist die beste Mannschaft der Welt, aber wir sind näher gekommen.“
Hans-Joachim Watzke Geschäftsführer Borussia Dortmund
Kein Wunder, dass sogar ein erklärter Skeptiker wie Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, der normalerweise an Siege erst glaubt, wenn er eine halbe Stunde nach dem Spiel im Vipraum sitzt, einigermaßen forsche Feststellungen trifft. „Bayern München“, sagt der Dortmunder Vereinschef, „ist die beste Mannschaft der Welt, aber wir sind näher gekommen.“Die Tabelle belegt es ebenso wie der fußballerische Auftritt der Mannschaft. An seinen guten Tagen spielt der BVB einen eindrucksvollen, schnellen und manchmal zauberhaft schönen Fußball. Diese guten Tage sind häufiger geworden.
Das liegt nicht nur an der künstlerischen Veranlagung der jungen Spieler oder an Erling Haalands ungeheuerlicher Erscheinung. Es liegt auch, vielleicht im Wesentlichen an Trainer Lucien Favre. Der Schweizer Tüftler, den sie nach den immer wiederkehrenden Rückschlägen und wegen seines Hangs zum Zaudern in Dortmund regelmäßig in Frage stellen, fällt nicht durch notorische Besserwisserei bei öffentlichen Auftritten auf. Er ist ein echter Bessermacher. Sein Hang zum Detail, seine Besessenheit von den
Kleinigkeiten geben seinen Spielern das Rüstzeug für das taktische Verhalten auf dem Platz. Das kann gar nicht überschätzt werden. Dadurch schafft Favre erst die Grundlage für einen unverwechselbaren Fußball, und er schafft seinem Klub gleichzeitig einen wirtschaftlichen Mehrwert. Ebenfalls nicht zu verachten.
Schließlich hat der BVB den Jugendstil zum Geschäftsmodell erhoben, weil er weiß, dass er im Wettlauf der europäischen Großklubs um die arrivierten Spieler nicht mithalten kann. Das kann in Deutschland allein Bayern München.
Dortmund greift bei seiner Talentsichtung allerdings nicht beschämt ins untere Regal. Für die Teenager Haaland (rund 20 Millionen Euro), Bellingham (23 Millionen) und Sancho (acht Millionen) wurden tüchtige Ablösesummen gezahlt. Favre hat daraus längst viel mehr gemacht. Haalands Marktwert wird beim Online-Dienst Transfermarkt auf 80 Millionen Euro geschätzt, Bellinghams auf 27 Millionen, Sanchos auf 117 Millionen.
Diese Zahlen sind für Dortmund ebenso wichtig wie Tore und Punkte. Denn der Klub ist zwar in Deutschland auch wirtschaftlich die klare Nummer zwei hinter Bayern München, aber darauf angewiesen, seine besten jungen Spieler regelmäßig teuer an die finanziell überlegenen Vereine auf dem internationalen Markt zu verkaufen. So zog zum Beispiel Ousmane Dembélé 2017 für 105 Millionen Euro zum FC Barcelona. Beim Transfer wurden Bonuszahlungen vereinbart, am Wochenende wurden wiederum fünf Millionen Euro fällig, inzwischen hat sich die Ablösesumme auf 130 Millionen Euro erhöht.
Mit ähnlichen Abschlüssen rechnet der BVB mittelfristig bei jenen Nachwuchs-Zauberern, die zurzeit für beste Unterhaltung auf dem Platz sorgen. Denn es ist ziemlich sicher, dass Haaland, Bellingham und Sancho bei den Dortmundern nicht in Rente gehen werden. Es hat sich ja nicht nur in der Bundesliga herumgesprochen, dass beispielsweise Haaland mit seinem unwiderstehlichen Spiel Tore schießt wie die ganz Großen. Und das ist immer noch die wesentliche Währung.
Der Norweger ist ein typischer Fall für eine funktionierende Karriere-Planung. In Salzburg hatte er als ganz junges Bürschchen die Gelegenheit, sich im Männerfußball zu profilieren. Dortmund ist der ideale Platz für den nächsten Schritt auf die große Bühne. Und wenn es so weitergeht, werden die Weltklubs Schlange stehen. So ähnlich war es bei Robert Lewandowski, der auch einmal so eine Dortmunder Entdeckung war.
Einstweilen kann Haaland dem BVB auf der seit Jahren vergeblichen Jagd nach dem Meistertitel entscheidend helfen. Und wer weiß, was mit dieser frischen Mannschaft in der Champions League möglich ist. Sie hatte dort ihren Aussetzer bei Lazio Rom (1:3), aber sie ist lernfähig. Das hat sie in der Bundesliga nach dem 0:2 in Augsburg bewiesen. Sie hat in der nationalen Liga allerdings auch erfahren müssen, dass der Branchenführer anscheinend immer noch das wichtige Stückchen weiter ist. Bayern München gewann in Dortmund mit 3:2. Aber auch daraus werden Favre und seine Jungs die richtigen Schlüsse ziehen.
Moukoko, das Wunderkind aus dem eigenen Nachwuchs, war gegen die Bayern noch nicht dabei, weil der Stürmer da erst 15 war. Gegen Brügge könnte er der jüngste Spieler in der Champions League werden, er ist am Montag nachgemeldet worden. Zurückhaltung passt in die Dortmunder Absicht, das große Talent so behutsam aufzubauen, wie es eben geht. Die seltsame Corona-Zeit hilft dabei, denn das Theater ist durch den fehlenden Publikumsverkehr doch sehr eingeschränkt. Das gefällt vor allem Favre, der es lieber nicht so laut hat.