Das Nord-Süd-Gefälle bei Corona
Die Pandemie hat sich vor allem im Süden und Westen des Landes rasant verbreitet, der Norden und Teile des Osten blieben vergleichsweise verschont. Das liegt an der Bevölkerungsdichte, ist aber auch von Zufällen abhängig.
Das Nord-Süd-Gefälle in den Bundesländern fiel bislang immer zugunsten der Süddeutschen aus. Sie hatten weniger Arbeitslose, höhere Einkommen, bessere Schulen und Universitäten, mehr Ingenieure und Wissenschaftler, eine deutlich höhere Zahl an Innovationen und Erfindungen. In der Corona-Pandemie ist es umgekehrt. Dort liegen unter den Flächenländern ausgerechnet die zuletzt so erfolgreichen Sachsen (187), Bayern (174) und Hessen (162) bei den wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner deutlich über dem Bundesschnitt von 140. Und auch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz färbte sich die Landkarte des Robert-Koch-Instituts (RKI) mit den Kreisen rot ein, was gleichbedeutend ist mit einem Überschreiten des magischen Inzidenzwerts von 50.
Anders die Nordlichter. Einzig Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern liegen noch unterhalb der kritischen Grenze. Und von den 40 Kreisen, die eine geringere Inzidenz als 50 haben, liegen 29 in den drei Bundesländern Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Auch bei der Zahl der Toten pro 100.000 Einwohnern schneiden Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland am schlechtesten ab. Auch hier lebt es sich im hohen Norden weit sicherer.
Man mag es drehen und wenden, wie man will, derzeit ist der Süden und auch der Westen der Republik mit der Seuche geschlagen, während der Norden und Teile des Ostens ganz gut über die Runden kommen. Und während die Länderchefs Markus Söder (Bayern) und Armin Laschet (NRW) für schärfere Maßnahmen plädieren, pocht der Nordverbund auf erste Lockerungen für Restaurants. Unter einer Einschränkung, wie Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern) und ihr Kollege Daniel Günther (Schleswig-Holstein) deutlich gemacht haben. Sie wollen keinesfalls Touristen aus dem Rest der Republik.
Für die Epidemiologen ist der wichtigste Grund für die relative Schonung des Nordens dessen geringere Bevölkerungsdichte. Das Coronavirus kann sich in dicht besiedelten Gebieten wie in Metropolen oder verstädterten Regionen wesentlich leichter ausbreiten. Das allein bietet freilich keine Gewähr dafür, dass die Infektionszahlen niedrig bleiben. Im Kreis Hildburghausen in Thüringen schnellte der Inzidenzwert auf 483 Neufälle, ein einsamer Rekord in Deutschland. Dabei ist der Kreis mit seinen 63.000 Einwohnern nur dünn besiedelt. Der Leiter der Infektiologie am Uniklinikum Jena, Mathias Pletz, hat dafür eine verblüffende Erklärung. „Der Landkreis hat relativ wenig Einwohner, schon wenige positive Testbefunde reichen aus, um die Inzidenz nach oben schnellen zu lassen“, sagte der Mediziner der „Thüringer Allgemeinen“. Dass Thüringen bislang vergleichsweise gut durch die Pandemie kam, könnte sich jetzt als Fluch erweisen. „Das bedeutet, dass sich das Virus nun enorm schnell ausbreiten kann, weil es nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung hatte“, meint der Infektiologe.
Die beiden Länderchefs in Kiel und Schwerin dürften also gewarnt sein. Denn auch in ihren Ländern sind die Infektionszahlen zuletzt gestiegen. Warum das plötzlich losgehen kann und warum einige Landstriche trotzdem nicht betroffen sind, können die Experten nur schwer erklären. „Oft ist es einfach Zufall“, meint der Jenaer Chef-Infektiologe Pletz.
In Bayern dagegen vermuten Experten, dass sich in manchen Kreisen die Menschen einfach weniger streng an die Bestimmungen halten. Wenn dann die Verbreitung rasch fortschreitet, können die Gesundheitsämter die Infektionsketten nicht mehr nachverfolgen. So hat das Gesundheitsamt in Fürth die Corona-Infizierten aufgefordert, ihre Kontaktpersonen selbst zu informieren. Das ist eine Bankrotterklärung. Und auch Ministerpräsident Söder kommt zusehends in Argumentationsschwierigkeiten.
Denn seine Erklärung, vor allem der Grenzverkehr zu Tschechien und Österreich mit deren jeweils hohen Infektionszahlen sei schuld an der bayerischen Misere, stimmt wohl kaum für den Landkreis Günzburg im Westteil des Landes. Dessen Inzidenz liegt bei 303 – fernab jeder Außengrenze.
Auf der Ebene der Kreise haben die großen Institute das Infektionsgeschehen noch nicht untersucht. Die Studie des Bonner Virologen Hendrik Streeck im Kreis Heinsberg ist schon Monate alt. „Wir können derzeit keine seriösen Schätzungen abgeben“, meint auch der Mathematiker Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich.
So bleiben nur die bundesweiten Erkenntnisse der Wissenschaft übrig. Das Helmholtz-Institut für Infektionsforschung hat ermittelt, dass die im November ergriffenen Maßnahmen die Kontakte um 40 Prozent reduziert hätten. Warum dann die Infektionen auf so hohem Niveau verharren, bleibt unklar. Das Ifo-Institut hat zusammen mit der Universität Bonn und dem Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in einer Studie ermittelt, dass die bisherigen Maßnahmen nur zu einem Inzidenzwert von 75 führen würden. Erst wenn weitere Wirtschaftszweige geschlossen würden oder die Schulen verstärkt digitalen Fernunterricht einrichten würden, wäre eine Inzidenz von 50 bis Weihnachten möglich.
Das von der Corona-Krise besonders betroffene Bundesland Bayern verweist auf die Reproduktionszahl. Aus ihr lässt sich errechnen, wie viele Menschen durch 100 Infizierte angesteckt werden. Bei einem Wert von 0,97 wie in Bayern, wären es 97. Der Leiter des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Walter Jonas, hofft auf einen stark verminderten Wert. „Dann haben wir in Bayern eine Chance, vielleicht bis Ende des Jahres wieder eine Sieben-Tages-Inzidenz um die 50 zu erreichen.“Doch das ist nur eine Hoffnung.
Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein wollen Restaurants früher öffnen