Gladbach hat Schalke planvoll überholt
Borussia hat eine klare Identität, eine definierte Spielidee und personelle Konstanz, all das fehlt in Gelsenkirchen.
MÖNCHENGLADBACH Schalke 04 hat zur Zeitenwende bei Borussia Mönchengladbach beigetragen. Am 20. Februar 2011 kamen die Gelsenkirchener in den Borussia-Park, wie am Samstag (18.30 Uhr/Sky), und verloren 1:2 beim abgeschlagenen Tabellenletzten Borussia. Es war das Spiel eins der Ära Lucien Favre. Der Schweizer machte aus dem Fast-Absteiger einen Champions-League-Teilnehmer. Wäre das Schalke-Spiel verloren gegangen, wäre die Geschichte Borussias in der vergangenen Dekade eine andere geworden.
Schalke war auch der Gegner, als die Favre-Zeit ihren ästhetischen Höhepunkt hatte. Das war im 11. Februar 2012 beim 3:0-Sieg der Gladbacher, bei dem die Borussen beim 1:0 durch den früheren Schalker Mike Hanke so wundervoll kombinierten, dass die Fußballwelt jauchzte und „Borussia Barcelona“ausrief. 2013 definierte ein Transfer von Schalke nach Gladbach erneut einen Meilenstein für die Borussen: Sie holten Raffael aus Kiew, der zuvor noch als Leihspieler Schalkes Siegtor im Europa-Duell beider Klubs vorbereitet hatte, und schnappten damit erstmals in der Neuzeit einem betuchten Konkurrenten einen Topspieler weg. Trotzdem, darauf pflegte Borussias Sportdirektor Max Eberl hinzuweisen, galt Schalke weiter als einer der Klubs, die Borussia nur im Optimalfall hinter sich lassen könne.
Das hat sich geändert. Nun kommen die Schalker als 18. der Bundesliga nach 24 sieglosen Spielen an den Niederrhein, wo Borussia gerade in der Champions League ein 4:0 gegen Schachjor Donezk zelebrierte. Aus Schalke gibt es nicht nur sportlich ständige Krisenmeldungen, während bei den Borussen jenseits des Corona-Themas in Ruhe und stringent gearbeitet wird, es geht stetig nach vorn. Borussia hat Schalke überholt. Das zeigen allein die Marktwerte. Da war Schalke lange vorn. Jetzt addiert sich der Wert des blau-weißen Ensembles auf 158 Millionen Euro, der der Borussen auf 340.
Während Gladbachs Spieler überall in Europa begehrt sind und Marco Rose als einer der Darlinge der neuen deutschen Trainer-Welle gefeiert wird, ist bei Schalke alles trist. Manuel Baum konnte Schalkes Sinkflug bislang nicht aufhalten, Spieler werden gefeuert oder suspendiert, Kaderplaner Michael Reschke musste gehen, es herrscht Unruhe überall. Die Fans haben ihrem Unmut nun mit Plakaten an der Schalker Arena Luft gemacht. „Beschämende Außendarstellung, planloser Vorstand und charakterlose Mannschaft. Das Ergebnis eurer jahrelangen Misswirtschaft“war da unter anderem zu lesen.
Schalke fehlt eine klare Identität. Die hat Eberl in Gladbach entwickelt, indem er das wesentliche Prinzip der Vergangenheit in die Gegenwart übersetzte: die Fohlenphilosophie. Es gibt eine Definition dessen, was Borussia sein will, wie ihr Fußball sein soll. Eberl spricht von „Leitplanken“. Es gibt Adjektive, die mit der Gladbacher Spielidee verbunden sind: jung, hungrig, offensiv, wild. Schalke hat kein nachvollziehbares Bild, dabei könnte man sich einen Mischung aus dem Kreisel der 30er und den Eurofightern der 90er, von Spielkultur und Maloche, gut vorstellen als roten Faden, als Orientierung, als Leitthema.
Die Borussen haben das, das gibt eine Struktur, hinzu kommt große personelle Konstanz. Seit dem Favre-Debüt gab es drei weitere Trainer
in Gladbach, bei Schalke sind es dreimal so viele. Genauso ist es mit den Spielideen. Was ist Schalke-Fußball? Das ist schwer zu sagen. Während Rose 2019 kam und Borussias Spiel weiterentwickelt hat mit neuen Akzenten, floppte David Wagner, der auf Schalke der Hoffnungsträger für eine neue Zeitrechnung sein sollte. Was er hinterließ: Den bislang letzten Sieg der Schalke – am 17. Januar 2020 gegen Gladbach. Schalke schien auf dem richtigen Weg zu sein. Es war ein Trugbild. So kämpft Schalke nun beim Champions-League-Teilnehmer Gladbach um einen ersten Lichtschimmer in der Finsternis der bisherigen Saison. Als klarer Außenseiter. 2011 war es andersherum.