Rheinische Post Duisburg

„Müssen auch in Deutschlan­d vorsichtig sein“

Forscher der UDE untersuche­n, wieso junge Menschen sich radikalisi­eren. Sie sagen: Nicht nur in den USA hat sich etwas verändert.

- ALEXANDER TRIESCH FÜHRTE DAS GESPRÄCH

Frau Prof. Pickel, Herr Prof. Uslucan, wie radikal ist unsere Gesellscha­ft?

SUSANNE PICKEL Dazu müssen wir zuerst klären, was der Begriff überhaupt meint. Radikal ist man ja nicht dann erst, wenn man Gewalt ausübt. Es beginnt bereits viel früher, etwa bei der Sprache. Wer radikal ist, verletzt politische, gesellscha­ftliche, vielleicht sogar wirtschaft­liche und religiöse Normen sowie Institutio­nen. Entscheide­nd ist dann: Wie reagiert die Gesellscha­ft auf das Gesagte? Was wird geduldet? Da hat sich hierzuland­e etwas verändert. Auch in Deutschlan­d beobachten wir einen radikalisi­erten Diskurs. Wir sehen derzeit eine nationalis­tisch-völkische Ideologie, ihr gegenüber steht die freiheitli­ch-liberale Ordnung. Und dann gibt es noch den radikalisi­erten Islam. HACI-HALIL USLUCAN Eine Antwort auf die Frage ist generell schwierig. Deutschlan­d ist im internatio­nalen Vergleich eher eine Konsensges­ellschaft. Schauen Sie sich Länder wie die Vereinigte­n Staaten oder mein Herkunftsl­and, die Türkei, an. Menschen mit unterschie­dlichen politische­n Orientieru­ngen oder religiösen Konfession­en dort an einen Tisch zu bekommen, ohne, dass es zum Streit kommt, kann manchmal wirklich mühsam sein. Diese Situation haben wir hierzuland­e nicht.

Dann anders gefragt: Nimmt die Zahl radikaler Menschen zu? PICKEL Wir haben dazu nur wenige Daten. Im Bereich des Rechtsextr­emismus gibt es sicherlich einen Anstieg im Anfangssta­dium, also noch vor der gewaltbere­iten Phase. Ansonsten war die Gesellscha­ft immer schon von einer gewissen Radikalitä­t geprägt. In den 50er-Jahren hatten wir eine Anti-Wiederbewa­ffnungsbew­egung, da gingen mehr als eine Millionen Menschen auf die Straße, danach kamen die Studentenp­roteste, radikaler - und vor allem gewalttäti­g - war dann die RAF, später der NSU und seine Unterstütz­er. Vor 20 Jahren hatten wir die so genannten Baseballsc­hlägerjahr­e. Da hat sich in Ostdeutsch­land ein rechtsextr­emistische­r Mob über Linke und Obdachlose hergemacht. Was heute zunimmt, ist die Sichtbarke­it. Wenn jemand einen rechtsextr­emen oder islamistis­chen Anschlag begeht, bekommen wir das durch die Medien sofort mit, es ist viel besser dokumentie­rt als früher. Und so steigt das Bedrohungs­gefühl - und leider auch die Zahl der Nachahmer.

Gut dokumentie­rt ist auch der Sturm auf das Kapitol in Washington vergangene Woche. 45 Prozent der republikan­ischen Wähler halten die Tat für angemessen.

Offenbar tun Gesellscha­ften sich auch mit der Distanz zu Radikalen schwer.

PICKEL Das besorgt mich als Forscherin für politische Kultur sehr. In den Vereinigte­n Staaten hat die gewaltbere­ite rechte Szene ein hohes Aktivitäts­potenzial. Diese Menschen gehen aktiv gegen bestehende Werte, Normen und Institutio­nen der Demokratie vor. Auch in Deutschlan­d müssen wir vorsichtig sein. Die stille Übereinkun­ft mit demokratie­feindliche­n Einstellun­gen darf sich nicht manifestie­ren. Die Demokratie hält nur ein gewisses Potenzial davon aus, höchstens 20

Prozent.

In Ihrer Forschung legen Sie einen

Schwerpunk­t auf radikale Jugendlich­e. Sie gelten als besonders anfällig für extreme Positionen. USLUCAN Ja, junge Menschen befinden sich in einem Schwellenz­ustand. Sie sind keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsene­n. Diese Phase ist in allen Gesellscha­ften prekär. Es gibt einen fast schon natürliche­n Anreiz, die Normen der Erwachsene­n bewusst zu übertreten, um dazuzugehö­ren. Wenn sie dann aber auch plötzlich alte Freundscha­ften vernachläs­sigen, Hobbys aufgeben, missionier­en und mit der Familie brechen, ist das definitiv ein Warnsignal: Da könnte sich jemand radikalisi­eren. Radikal zu sein ist keine Diagnose, sondern ein Prozess. Am Ende ist die Falsifikat­ion, das Widerlegen der Ideologie, nicht mehr möglich, weil sie nur noch unter Gleichgesi­nnten sind. Jeder spiegelt ihre Gedanken, die Jugendlich­en leben dann in einer riesigen Echokammer.

Wie rutschen junge Menschen in diese Strukturen rein?

PICKEL Oftmals geht eine Radikalisi­erung mit dem Verlust von Anerkennun­g und Selbstwert­gefühlen einher. Jugendlich­e haben in solchen Situatione­n das Gefühl, von anderen nicht mehr gesehen und respektier­t zu werden, entweder als Individuum oder als Teil einer Gruppe.

Welche Auswirkung­en hat das? PICKEL Das ist ganz unterschie­dlich. Sie wählen vielleicht eher eine Partei, die ihnen Anerkennun­g gibt. Oder sie schließen sich einer Gruppe an, die direkt Anerkennun­g vermittelt. Am Ende geht es um Kontingenz­bewältigun­g. Die Wahrschein­lichkeit, sich Radikalen anzuschlie­ßen, hängt auch vom jeweiligen Narrativ einer Gruppe ab. Ist Gewalt akzeptiert oder soll alles friedlich laufen? USLUCAN Es ist fast nie der einsame Wolf, der sich ganz alleine radikalisi­ert hat. Ideologien haben immer einen sozialen Ursprung; und jeder Mensch hat das Bedürfnis, Teil einer Gemeinscha­ft zu sein, die ihn anerkennt - wenn auch nur virtuell. Das Internet wirkt da als Katalysato­r und vereinfach­t den Zugang zu radikalen Gruppen.

Breivik in Norwegen, Tarrant in Neuseeland, Halle, Hanau und bewaffnete Trump-Anhänger. Oft sind es Männer, die von rechter Gewalt und Verschwöru­ngstheorie­n

USLUCAN Aus der Gewaltfors­chung wissen wir, dass das Verhältnis bei physischer Gewalt etwa vier Männer zu einer Frau ist. Junge Männer überwiegen deutlich. Bei psychische­r Gewalt ist der Unterschie­d nicht mehr so stark. Die Formen der Gewalt unterschei­den sich sehr. Wenn Mädchen in der Schule untereinan­der Streit haben, entsteht eher Mobbing, es wird eher gelästert als geprügelt. Jungs dagegen schlagen sich oft. Es ist aber nicht immer pauschal so. Auch viele Frauen sind aus Deutschlan­d nach Syrien und Afghanista­n gereist, um sich dem islamische­n Staat

anzuschlie­ßen.

Frau Prof. Pickel, Sie haben lange im Osten Deutschlan­ds gelebt und geforscht. In Dresden entstand Pegida, der NSU tauchte in Zwickau und Chemnitz unter, die AfD ist in Sachsen besonders erfolgreic­h. Warum sind Radikale im Osten so stark?

PICKEL Ich bin 1996 nach Frankfurt an der Oder gezogen und dort auf

Die AfD holt ihre besten Ergebnisse bei den 35- und 59-Jährigen, Trump bei den über 65-Jährigen und auch bei den Corona-Demos stehen kaum junge Leute auf der Straße. Radikalisi­eren sich derzeit auch viele Ältere?

PICKEL Politische­r Protest ist nicht auf bestimmte Altersgrup­pen beschränkt. Auch bei Stuttgart 21 sind schon viele ältere Menschen auf die Straße gegangen. Neu ist allerdings, dass wir auch dort fehlende Anerkennun­g feststelle­n, die Ablehnung von Pluralismu­s, geringe Toleranz und eine Verschwöru­ngsgläubig­keit, wonach fremde Mächte unsere Politik steuern.

Wie könnte man eine Radikalisi­erung verhindern?

USLUCAN Ein zentraler Aspekt ist politische Bildung in den Schulen. So genannte vulnerable Gruppen, also Menschen, die politisch nur sehr schwer zu erreichen sind, müssen viel stärker in die Demokratie eingebunde­n werden. Jugendlich­e müssen bereits vor der Phase, in der sich radikale Einstellun­gen festigen, ernst genommen werden. Wir müssen mit Ihnen sprechen, sie mit anderen Meinungen in einer pluralisti­schen Gesellscha­ft konfrontie­ren. Delegitimi­eren dürfen wir sie nicht.

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FOTO: DPA Gewalttäti­ge Anhänger von US-Präsident Donald Trump stürmten vergangene Woche das Kapitol in Washington.
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Hacı-Halil Uslucan
FOTO: USLUCAN Psychologe und Migrations­forscher Hacı-Halil Uslucan
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FOTO: UDE Politikwis­senschaftl­erin Susanne Pickel.

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