„Müssen auch in Deutschland vorsichtig sein“
Forscher der UDE untersuchen, wieso junge Menschen sich radikalisieren. Sie sagen: Nicht nur in den USA hat sich etwas verändert.
Frau Prof. Pickel, Herr Prof. Uslucan, wie radikal ist unsere Gesellschaft?
SUSANNE PICKEL Dazu müssen wir zuerst klären, was der Begriff überhaupt meint. Radikal ist man ja nicht dann erst, wenn man Gewalt ausübt. Es beginnt bereits viel früher, etwa bei der Sprache. Wer radikal ist, verletzt politische, gesellschaftliche, vielleicht sogar wirtschaftliche und religiöse Normen sowie Institutionen. Entscheidend ist dann: Wie reagiert die Gesellschaft auf das Gesagte? Was wird geduldet? Da hat sich hierzulande etwas verändert. Auch in Deutschland beobachten wir einen radikalisierten Diskurs. Wir sehen derzeit eine nationalistisch-völkische Ideologie, ihr gegenüber steht die freiheitlich-liberale Ordnung. Und dann gibt es noch den radikalisierten Islam. HACI-HALIL USLUCAN Eine Antwort auf die Frage ist generell schwierig. Deutschland ist im internationalen Vergleich eher eine Konsensgesellschaft. Schauen Sie sich Länder wie die Vereinigten Staaten oder mein Herkunftsland, die Türkei, an. Menschen mit unterschiedlichen politischen Orientierungen oder religiösen Konfessionen dort an einen Tisch zu bekommen, ohne, dass es zum Streit kommt, kann manchmal wirklich mühsam sein. Diese Situation haben wir hierzulande nicht.
Dann anders gefragt: Nimmt die Zahl radikaler Menschen zu? PICKEL Wir haben dazu nur wenige Daten. Im Bereich des Rechtsextremismus gibt es sicherlich einen Anstieg im Anfangsstadium, also noch vor der gewaltbereiten Phase. Ansonsten war die Gesellschaft immer schon von einer gewissen Radikalität geprägt. In den 50er-Jahren hatten wir eine Anti-Wiederbewaffnungsbewegung, da gingen mehr als eine Millionen Menschen auf die Straße, danach kamen die Studentenproteste, radikaler - und vor allem gewalttätig - war dann die RAF, später der NSU und seine Unterstützer. Vor 20 Jahren hatten wir die so genannten Baseballschlägerjahre. Da hat sich in Ostdeutschland ein rechtsextremistischer Mob über Linke und Obdachlose hergemacht. Was heute zunimmt, ist die Sichtbarkeit. Wenn jemand einen rechtsextremen oder islamistischen Anschlag begeht, bekommen wir das durch die Medien sofort mit, es ist viel besser dokumentiert als früher. Und so steigt das Bedrohungsgefühl - und leider auch die Zahl der Nachahmer.
Gut dokumentiert ist auch der Sturm auf das Kapitol in Washington vergangene Woche. 45 Prozent der republikanischen Wähler halten die Tat für angemessen.
Offenbar tun Gesellschaften sich auch mit der Distanz zu Radikalen schwer.
PICKEL Das besorgt mich als Forscherin für politische Kultur sehr. In den Vereinigten Staaten hat die gewaltbereite rechte Szene ein hohes Aktivitätspotenzial. Diese Menschen gehen aktiv gegen bestehende Werte, Normen und Institutionen der Demokratie vor. Auch in Deutschland müssen wir vorsichtig sein. Die stille Übereinkunft mit demokratiefeindlichen Einstellungen darf sich nicht manifestieren. Die Demokratie hält nur ein gewisses Potenzial davon aus, höchstens 20
Prozent.
In Ihrer Forschung legen Sie einen
Schwerpunkt auf radikale Jugendliche. Sie gelten als besonders anfällig für extreme Positionen. USLUCAN Ja, junge Menschen befinden sich in einem Schwellenzustand. Sie sind keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsenen. Diese Phase ist in allen Gesellschaften prekär. Es gibt einen fast schon natürlichen Anreiz, die Normen der Erwachsenen bewusst zu übertreten, um dazuzugehören. Wenn sie dann aber auch plötzlich alte Freundschaften vernachlässigen, Hobbys aufgeben, missionieren und mit der Familie brechen, ist das definitiv ein Warnsignal: Da könnte sich jemand radikalisieren. Radikal zu sein ist keine Diagnose, sondern ein Prozess. Am Ende ist die Falsifikation, das Widerlegen der Ideologie, nicht mehr möglich, weil sie nur noch unter Gleichgesinnten sind. Jeder spiegelt ihre Gedanken, die Jugendlichen leben dann in einer riesigen Echokammer.
Wie rutschen junge Menschen in diese Strukturen rein?
PICKEL Oftmals geht eine Radikalisierung mit dem Verlust von Anerkennung und Selbstwertgefühlen einher. Jugendliche haben in solchen Situationen das Gefühl, von anderen nicht mehr gesehen und respektiert zu werden, entweder als Individuum oder als Teil einer Gruppe.
Welche Auswirkungen hat das? PICKEL Das ist ganz unterschiedlich. Sie wählen vielleicht eher eine Partei, die ihnen Anerkennung gibt. Oder sie schließen sich einer Gruppe an, die direkt Anerkennung vermittelt. Am Ende geht es um Kontingenzbewältigung. Die Wahrscheinlichkeit, sich Radikalen anzuschließen, hängt auch vom jeweiligen Narrativ einer Gruppe ab. Ist Gewalt akzeptiert oder soll alles friedlich laufen? USLUCAN Es ist fast nie der einsame Wolf, der sich ganz alleine radikalisiert hat. Ideologien haben immer einen sozialen Ursprung; und jeder Mensch hat das Bedürfnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die ihn anerkennt - wenn auch nur virtuell. Das Internet wirkt da als Katalysator und vereinfacht den Zugang zu radikalen Gruppen.
Breivik in Norwegen, Tarrant in Neuseeland, Halle, Hanau und bewaffnete Trump-Anhänger. Oft sind es Männer, die von rechter Gewalt und Verschwörungstheorien
USLUCAN Aus der Gewaltforschung wissen wir, dass das Verhältnis bei physischer Gewalt etwa vier Männer zu einer Frau ist. Junge Männer überwiegen deutlich. Bei psychischer Gewalt ist der Unterschied nicht mehr so stark. Die Formen der Gewalt unterscheiden sich sehr. Wenn Mädchen in der Schule untereinander Streit haben, entsteht eher Mobbing, es wird eher gelästert als geprügelt. Jungs dagegen schlagen sich oft. Es ist aber nicht immer pauschal so. Auch viele Frauen sind aus Deutschland nach Syrien und Afghanistan gereist, um sich dem islamischen Staat
anzuschließen.
Frau Prof. Pickel, Sie haben lange im Osten Deutschlands gelebt und geforscht. In Dresden entstand Pegida, der NSU tauchte in Zwickau und Chemnitz unter, die AfD ist in Sachsen besonders erfolgreich. Warum sind Radikale im Osten so stark?
PICKEL Ich bin 1996 nach Frankfurt an der Oder gezogen und dort auf
Die AfD holt ihre besten Ergebnisse bei den 35- und 59-Jährigen, Trump bei den über 65-Jährigen und auch bei den Corona-Demos stehen kaum junge Leute auf der Straße. Radikalisieren sich derzeit auch viele Ältere?
PICKEL Politischer Protest ist nicht auf bestimmte Altersgruppen beschränkt. Auch bei Stuttgart 21 sind schon viele ältere Menschen auf die Straße gegangen. Neu ist allerdings, dass wir auch dort fehlende Anerkennung feststellen, die Ablehnung von Pluralismus, geringe Toleranz und eine Verschwörungsgläubigkeit, wonach fremde Mächte unsere Politik steuern.
Wie könnte man eine Radikalisierung verhindern?
USLUCAN Ein zentraler Aspekt ist politische Bildung in den Schulen. So genannte vulnerable Gruppen, also Menschen, die politisch nur sehr schwer zu erreichen sind, müssen viel stärker in die Demokratie eingebunden werden. Jugendliche müssen bereits vor der Phase, in der sich radikale Einstellungen festigen, ernst genommen werden. Wir müssen mit Ihnen sprechen, sie mit anderen Meinungen in einer pluralistischen Gesellschaft konfrontieren. Delegitimieren dürfen wir sie nicht.