Keine Absicht
Die Corona-Regeln sind eigentlich klar, und doch verstoßen wir manchmal dagegen. Schuld sind fünf psychologische Tücken der Pandemie.
Ein treibender Faktor, sich und andere weniger gut zu schützen, ist nach Einschätzung der Wissenschaftler tatsächlich anhaltende Pandemiemüdigkeit. Mit ihr greifen eine gewisse Apathie und Gefühllosigkeit um sich. Die Menschen werden mit Informationen bombardiert, aber es fehlt insgesamt die Abwechslung. Das zehrt an der Energie, sagt Arbeitspsychologe Hannes Zacher von der Universität Leipzig.
Ähnlich sieht das Ulrich Wagner, Sozialpsychologe der Universität Marburg: „Wir müssen ständig aufmerksam sein, um beispielsweise in jeder Situation an den ausreichenden Abstand zueinander zu denken.“Das stehe den lang erlernten und automatisierten Verhaltensweisen gegenüber, die uns eigentlich helfen, durch den Alltag zu kommen.
Ein Beispiel: Sind wir miteinander im Gespräch, empfinden wir je nach Vertrautheitsgrad 50 bis 60 Zentimeter als kulturell akzeptierten Wohlfühlabstand. Meist bewegt man sich automatisch in dieser Distanz zueinander. In Corona-Zeiten jedoch wird uns ein Abstand von 1,50 Metern als Schutzzone abverlangt. Die Folge: „Wir bewegen uns permanent wie auf einem Hochseil und müssen uns ständig kontrollieren“, sagt Wagner. Das ist anstrengend und führt zum Missachten von Regeln, sobald die Aufmerksamkeit nachlässt.
Darum hält Wagner zum Beispiel ein Handyverbot in Innenstädten zwar für nicht durchsetzbar – aber für sinnvoll. Der ständige Blick aufs Smartphone binde oft zu viel Aufmerksamkeit.
Falsches Vertrauen
Manchmal täuscht uns unsere Intuition: Während man im Bus oder in der Kassenschlange im Supermarkt akribisch auf den richtigen Abstand zu anderen achtet, erscheint es einem unwahrscheinlich, dass von der eigenen Mutter oder einem guten Freund das gleiche Infektionsrisiko ausgeht. So stellten auch Forscher aus den Niederlanden und den USA jüngst in einer Studie fest, dass Menschen bei Treffen mit Freunden ein höheres Infektionsrisiko in Kauf nehmen als bei fremden Menschen, die ihnen sympathisch erscheinen. „Wir sind es gewohnt, nahestehenden Menschen zu vertrauen“, sagt Sozialpsychologe Wagner. Auch hier spielten die kulturellen Gewohnheiten eine Rolle. Freunden komme man unreflektiert näher als Fremden.
Der Moral-Licensing-Effekt
Wer schon mal halbherzig Diät gemacht hat, kennt das Phänomen: Den ganzen Tag über hat man Kalorien gezählt – am Abend macht sich das Gefühl breit, sich jetzt endlich etwas Gutes tun zu dürfen. Man greift zur Chipstüte. In der Pandemie läuft das ähnlich: Wenn man sich lange an die Regeln gehalten hat, häuft sich gedanklich leicht eine Art moralischer Bonus an. „Das kann zu dem Gefühl führen, damit das Recht erworben zu haben, auch mal über die Stränge zu schlagen“, sagt Wagner. In der Psychologie bezeichnet man das als „Moral Licensing“, also moralische Lizenzierung – eine Art Freibrief dafür, einmal nicht vorbildlich zu handeln.
So lässt sich erklären, warum jemand zunächst ausdauernd auf den Besuch von Freunden verzichtet, am Tag X aber in die U-Bahn steigt und die Oma besucht, umarmt und im schlimmsten Fall ansteckt. Nach Einschätzung des Sozialpsychologen
können auch illegale Partys wie die in einem Café am Essener Baldeneysee im Januar auf solchen moralischen Freibriefen beruhen. Sein Rat: „Man sollte sich immer wieder klarmachen, dass viel gutes Verhalten einfach keinen Effekt darauf hat, sich bei einmalig falschem Verhalten nicht doch anzustecken.“Die eigene Legitimationsstrategie sei dem Virus egal.
Erlernte Hilflosigkeit
In der aktuellen Situation sind viele Menschen nicht nur zunehmend müde, sich an Regeln zu halten. „Viele sehen auch nicht mehr
Corona-Schutzmaßnahmen sollen helfen, die Zahl der Neuinfektionen zu reduzieren und eine weitere Verbreitung mutierter Viren einzudämmen. Das Verrückte ist jedoch: Halten sich viele Menschen an die Maßnahmen und zeigen diese dann Erfolg, führt das häufig dazu, dass sich weniger Menschen daran beteiligen. Denn wer sich selbst sicherer fühlt, stellt die Schutzmaßnahmen eher infrage. Durch die fallende Motivation vieler sinkt der Schutzeffekt für den Einzelnen. Dieses Dilemma kennt man auch aus dem Bereich der Impfepidemiologie. Wird gegen eine Infektionskrankheit geimpft und sinkt infolgedessen die Inzidenz, verliert sich mit der Zeit das Bewusstsein für die Gefährlichkeit der Krankheit. „Zugleich erscheinen Nebenwirkungen der Impfung sowie potenzielle und reale (wenn auch seltene) Impfschäden gravierender als die Infektionskrankheit selbst“, schreibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Thema.
Genau dieses Phänomen könnte – sofern immer mehr Deutsche einen Impfschutz gegen Covid-19 besitzen – in der Zukunft auch im Kampf gegen Corona zum Problem werden. Eine mögliche Maßnahme dagegen: Menschen in Vereinen, Einzelinitiativen oder Projekten einbinden. Beteiligung schafft das Gefühl von Wirksamkeit, weiß man aus der Forschung. Menschen empfinden sich dann eher als Teil der Lösung.