Wenn Pianisten schwarz vor Augen wird
In der klassischen Musik hängt über manchen extrem schwierigen Stücken ein Nimbus: Sie gelten als unspielbar. Wer sie übt, erlebt erst einmal nichts als Schrecken. Was sind das für Künstler, die sich solche Strapazen zumuten?
DÜSSELDORF Jeder Mensch denkt bei diesem Wort an etwas anderes. Freunde von Videospielen verbinden mit „unspielbar“eine heimtückische Versuchsanordnung, die nur mit Schnelligkeit und Trickreichtum zu lösen ist – lustige Grausamkeit des Games, die den Spaß und das Wohlbefinden steigert. Fußballfans denken an eine jener visionären Flanken von Günter Netzer, die eigentlich unspielbar waren und die Grenzen von Raum und Zeit überwanden. Auch beim Golf gibt es Bälle, die ein Spieler aus taktischen Gründen für unspielbar erklären kann. Nach dem Motto: geht nicht, will nicht, kann nicht.
In der klassischen Musik ist der sogenannten Unspielbarkeit ein Nimbus beigewachsen, der nach einem Künstler mit Sisyphos-Eigenschaften schreit, einem Triathleten, einem Iron Man, der mit Furchtlosigkeit begabt ist. Manche Mozart-Arie erfordert nicht nur unerhörte technische, sondern auch gestalterische Kompetenz (die „Pamina-Arie“aus der „Zauberflöte“ist sehr, sehr schwer); auch manche Opern gelten als extrem strapaziös („Otello“für den Titeltenor) oder dramaturgisch unerreichbar (etwa Zimmermanns „Soldaten“, die gleichzeitig auf drei Zeitebenen spielen).
Vor allem für das Klavier haben Komponisten Werke geschrieben, bei denen einem schwarz vor Augen wird, wenn man die Noten aufschlägt. Sprünge in höchstem Tempo. Akkordballungen, die wie aus einem Maschinengewehr abgefeuert werden. Tonskalen, die im Affenzahn von beiden Händen parallel über die Klaviatur gejagt werden. Intervallspreizungen, für die einem lange Finger wie Dracula gewachsen sein müssten. Rhythmische Puzzlespiele, die einen schon bei der Entzifferung kirre machen.
Dieser Tage hat der Pianist Igor Levit einem Werk, das er alle Jubeljahre spielt (auch demnächst in Düsseldorf), das Etikett der Unspielbarkeit angehängt: der horrenden „Passacaglia über D-S-C-H“von Ronald Stevenson. Wenn er die Noten aufklappt, begibt er sich für eine Stunde und 20 Minuten ohne Netz in die Kuppel einer Manege, zu angsteinflößenden Salti und Kamikaze-Manövern, für die ihm die Noten zwischendurch nur sehr eingeschränkte Möglichkeit zur Erholung gewähren.
Der Schrecken ist aber auch auf Hörerseite. Manche bekommen beim „Opus clavicembalisticum“des Engländers Kaikhosru Shapurji Sorabji oder bei Leopold Godowskys Studien zu Frédéric Chopins Etüden Gänsehaut. Wieder andere bekreuzigen sich schon, wenn sie nur den Namen des französischen Komponisten Charles Valentin Alkan hören, der Pianisten gern in die Folterkammer bittet. Weitere Lieblingsstücke im Kabinett der Schinderei (auf Youtube
zu sehen): Mili Balakirews vibrierende orientalische Fantasie „Islamey“, am besten gespielt von Boris Berezowsky, einmal mit den mitlaufenden Noten, einmal live aus Mexico City. Oder Igor Strawinskys kantiger „Petruschka“, gespielt von Yuja Wang.
Nun ist das Monströse als Kraftakt der Wahrnehmung, Schnelligkeit, Treffsicherheit und Fähigkeit zur Assoziation das eine. Manche Stücke erfordern eine sozusagen gesunde Schizophrenie, wenn der Komponist auf dem Klavier für zwei Hände
vier Notensysteme übereinander anordnet. Aber damit das Klavier nicht zur Materialprüfungsanstalt verkommt oder zum Trainingsgerät der Muckibude, muss über das Körperliche hinaus noch Musik gemacht werden – was deutlich schwieriger ist. „Islamey“ist ja nicht nur schnell, sondern muss auch glitzern, prasseln, über dem Steinway muss die Idee eines Flugs über die Steppe leuchten. Es ist Poesie in ihrer ausgereizten Gestalt.
Was sind das für Leute, die sich solche Plagen zumuten? Es sind Extrembergsteiger, die den Kampf mit der Materie lieben. Bei Tageslicht waren und sind zum Beispiel die meisten Hexenmeister des Klaviers unauffällige Leute, sie schneiden daheim die Frühlingszwiebeln, lesen Elizabeth George oder gucken „Fargo“-DVDs. Der vielleicht genialste Spross dieser Berufsgruppe ist Marc-André Hamelin, 1961 im kanadischen Montréal geboren. Er gilt als Hypervirtuose, als Alleskönner, doch um ihn wogt nicht der geringste Spiralnebel der Dämonie. Hamelin ist außergewöhnlich bescheiden und witzig („Ich habe das Doppelgriff-Gen!“), liebt den Kontakt zum Publikum, trägt selten Frack, sieht am Flügel aus wie ein Briefmarkensammler und macht keinerlei Faxen. Doch was er auf dem Klavier wegschafft, übersteigt jedes vorstellbare Maß.
Hamelin steht insofern in bester Tradition, als er selbst viel und vor allem originell komponiert, am liebsten furchterregende Klaviermusik, die den Extremsportarten zugerechnet werden muss. Seine zwölf Etüden in allen Molltonarten lösen bei Betrachtung der Noten Übelkeit aus, als sei der menschliche Gleichgewichtssinn plötzlich gestört: Wo ist denn hier oben und unten? Wie soll man das so schnell spielen? Muss man hier nicht drei Hände haben?
Lange Zeit war Hamelin der einzige Pianist, der Hamelin spielte. Jetzt hat sich herumgesprochen, dass es diese Noten gibt, und viele kaufen sie und fangen an zu üben. Bis sie innehalten und begreifen: Das hier ist wie ein Achttausender ohne Sauerstoff!
Wer die Todeszone der Unspielbarkeit erreicht, um den wird es einsam. Doch wenn er glücklich zurückkehrt, erlebt er den Jubel des Publikums.