Die Ellerstraße passt beinahe auf einen Rollladen
Die Kunst-Schriftstellerin Vera Vorneweg hat ihre Notizen und Gedanken auf dem Fensterverschluss der ehemaligen Gaststätte „Zum Blauen Bock“verewigt.
DÜSSELDORF Ob es auf der Ellerstraße viele Webcams gibt? Schwer zu sagen, aber wenn einer darüber Bescheid weiß, dann ist das Vera Vorneweg. Sie ist nämlich eine lebende Webkamera.
Besser gesagt, die 36-Jährige war das bis vor Kurzem. Von jetzt an präsentiert sie ihre Aufnahmen dauerhaft genau dort, wo sie entstanden sind, auf der Straße vor der ehemaligen Kneipe „Zum Blauen Bock“– in einer ganz besonderen Form. Anstelle der Bilder, die üblicherweise in kurzen Intervallen Szenen außerhalb von Gebäuden festhalten, hat die Kunst-Schriftstellerin über Wochen hinweg eigene Beobachtungen schriftlich fixiert, pedantisch genau und natürlich äußerst subjektiv.
Auf den Fenster-Rollläden des seit fünf Jahren geschlossenen „Blauen Bocks“kann man nun, wenn man sich die Zeit für echt Kleingeschriebenes nimmt, Texte folgender Art lesen: „Bleibe schreibend im Bild, heißt es bei Peter Handke. Alles in der Stadt sprach zu mir.“Philosophisches lässt sich in den eng beschriebenen Zeilen auch entdecken: „Was wird geschehen, wenn das Feuer aufhört, rote Kohlen in mir zu verglühen?“
Die erste Version des Textes entstand, so berichtet die Autorin Vorneweg, handschriftlich mit Füller, Tinte und Notizbuch. Hierzu saß sie stundenlang auf dem kleinen Treppenabsatz vor der Kneipe. Immer wenn das Gesehene und Erlebte zu viel wurde, also der Eindrucks-Überfluss drohte, musste sie sich einschränken, denn: „Letztendlich ging es nicht nur um eine nüchterne Auflistung, sondern auch darum, was das Gesehene von mir wollte und was mein Anteil in der Momentaufnahme der Straße war.“
In einem weiteren Schritt erfolgte die Auftragung des Textes mit Acrylstift auf den Rolladen. Hierbei blieben viele Menschen stehen, fingen an zu lesen oder erzählten eigene Geschichten. Auch das ist für Vorneweg ein Teil ihres Kunstwerks: „Meine Arbeit ist eine Art Literatur-Intervention, ein Eingriff in den öffentlichen Raum, mit einem Fokus auf Schrift.“Was nicht heißen soll, dass ihre Schreibarbeiten dauerhaft ohne Buchdeckel auskommen müssen. Eine Verlagspublikation
ist noch für dieses Jahr geplant, sagt Vorneweg.
Wie aber sieht es im Inneren der Kneipe aus? Die alte Theke ist noch da. Der große Schankraum aber bliebe kahles Schweigen, wenn es nicht Marina Kiga gäbe. Die aus der Republik Moldau stammende Studentin der Kunstakademie wohnt wie viele ihrer Kommilitonen an der Ellerstraße. Während des Lockdowns war sie wie andere auch gezwungen, sich nach einem Atelier umzusehen. Und hatte Glück: Seit Monaten darf sie den „Blauen Bock“ihre künstlerische Heimat nennen.