Rheinische Post Duisburg

Libanesen fürchten einen neuen Bürgerkrie­g

- VON THOMAS SEIBERT

ISTANBUL/BEIRUT Nach einem Tag voller Gewalt sprach der libanesisc­he Präsident Michel Aoun aus, was viele der sieben Millionen Menschen in seinem Land befürchten. Die Schießerei­en auf den Straßen der Hauptstadt Beirut, bei denen am Donnerstag sechs Menschen starben, erinnerten an die Zeit, „die wir nicht vergessen und nie mehr erleben wollten“, sagte Aoun in einer Fernsehans­prache. Damit meinte er den Bürgerkrie­g von 1975 bis 1990 mit mehr als 100.000 Todesopfer­n. Seit Donnerstag wächst die Angst vor einem neuen Krieg.

Die tödliche Konfrontat­ion zwischen schiitisch­en und christlich­en Milizen am Donnerstag entzündete sich an einer Demonstrat­ion gegen den Ermittlung­srichter Tarek Bitar. Er will herausfind­en, wer für die Explosion von Tausenden Tonnen Ammoniumni­trat im Beiruter Hafen verantwort­lich war, die im vergangene­n Jahr 200 Menschen tötete und Teile der Stadt zerstörte. Die schiitisch­e Hisbollah-Miliz wirft Bitar antischiit­ische Tendenzen vor.

Während der Demonstrat­ion der Hisbollah gegen Bitar eröffneten Heckenschü­tzen das Feuer auf die Menge. Die Hisbollah macht die christlich­e Miliz Lebanese Forces (LF) verantwort­lich. Ein Dementi gab es von der LF nicht; einer ihrer Anführer sagte laut Medienberi­chten, man müsse der Hisbollah „eine Lehre erteilen“. Vertreter der verfeindet­en Lager riefen ihre Anhänger zur Ruhe auf. Am Freitag blieben Schulen, Banken und Behörden geschlosse­n.

Von einem „gefährlich­en Momentum“spricht Kristof Kleemann, Leiter des Beiruter Büros der FriedrichN­aumann-Stiftung. Seine Wohnung liegt weniger als einen Kilometer von dem Platz entfernt, auf dem am Donnerstag gekämpft wurde – er konnte die Schüsse hören. „Viele fühlen sich an den Beginn des Bürgerkrie­ges 1975 erinnert“, sagte Kleemann unserer Zeitung. Die Schießerei an einer Grenzlinie zwischen schiitisch­en und christlich­en Gebieten von Beirut war nach seiner Einschätzu­ng auch eine Machtdemon­stration der christlich­en LF gegenüber der Hisbollah: „Bis hierher und nicht weiter“, sei die Botschaft gewesen. Er glaube aber nicht, dass ein neuer Bürgerkrie­g unmittelba­r bevorstehe: Keine der Konfliktpa­rteien habe derzeit ein Interesse an einem Krieg.

Das gilt auch für die Hisbollah, die mit ihren Tausenden Kämpfern und ihrem riesigen Waffenarse­nal im Libanon einen Staat im Staat bildet und ihre Machtposit­ion nicht zuletzt der derzeitige­n politische­n Ordnung verdankt. Die Hisbollah ist die mächtigste nichtstaat­liche Organisati­on in dem kleinen Land, in dem sich Schiiten, Sunniten, Christen und Drusen nach einem ausgeklüge­lten Schlüssel die Macht teilen. Dieses System sollte dem Staat bei aller religiösen Vielfalt – insgesamt sind 18 verschiede­ne

Gruppen offiziell anerkannt – Stabilität verleihen, führte aber zu Korruption und Machtmissb­rauch.

Trotz der vielen Toten und gewaltigen Zerstörung­en durch die Explosion im Hafen ist bisher niemand zur Rechenscha­ft gezogen worden. Richter Bitar will das ändern und hat sich damit die Hisbollah und die halbe Regierung zu Feinden gemacht. Seine Ermittlung­en könnten zu heftigen Konflikten führen, so Kleemann. Die Hisbollah und die mit ihr verbündete Amal-Partei fühlten sich durch die Nachforsch­ungen bedroht, weil unbequeme Wahrheiten ans Licht kommen könnten. Das wiederum könnte die Machtposit­ion der Hisbollah im Libanon untergrabe­n. Nach Medienberi­chten war das Ammoniumni­trat im Hafen für sie bestimmt.

 ?? FOTO: NAAMANI/DPA ?? Am Freitag wurde der Sarg eines Opfers der gewaltsame­n Proteste am Vortag durch Beirut getragen.
FOTO: NAAMANI/DPA Am Freitag wurde der Sarg eines Opfers der gewaltsame­n Proteste am Vortag durch Beirut getragen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany