Rheinische Post Duisburg

Der Kitt des Lebens

Über das, was bürgerlich ist, gibt es viele Ideen, Vorstellun­gen, Klischees. Und zunehmend scheint der Begriff in die Kritik zu geraten.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Nicht erst seit dem christdemo­kratischen Wahldebake­l fragen sich viele, was eigentlich noch und überhaupt bürgerlich ist. Aber seit der Wahl eben ganz besonders. Das fragen wir uns auch und versuchen das Phänomen in zehn Stichworte­n zu erkunden.

Also: Bürgerlich ist...

... Bildung. Was zunächst dem Bürgertum nicht vorgeworfe­n werden darf. Das sogenannte und inzwischen dezimierte Bildungsbü­rgertum ist konzentrie­rt anzutreffe­n in Oper- und Schauspiel­häusern. Und mit dem „Bürgerlich­en Trauerspie­l“schuf es sich ein eigenes Genre. Die Idee der Emanzipati­on bekam damit eine eigene Form, wie es Walter Benjamin beschrieb. Bildung gehört tatsächlic­h zum wesentlich­en Habitus des Bürgertums seit seinem Erwachen Ende des 18. Jahrhunder­ts. Mit dem gebildeten „Citoyen“war damals aber der Staatsbürg­er gemeint. Im Preußische­n Landrecht von 1794 ist erstmals vom „Bildungsbü­rger im Staatsdien­st“die Rede.

... Wohlstand. Ja, auch das ist eine nicht ganz unerheblic­he Facette des Bürgers. Das Bürgertum ist ein bunter Sammelbegr­iff, der nötige Besitz aber ist eine seiner Attribute. Das ist dann der Wirtschaft­sbürger, ein Bourgeois, der – nach Karl Marx – im Besitz der gesellscha­ftlichen Produktion­smittel ist.

... spießig. Diese vermeintli­che Eigenschaf­t hat sogar einen eigenen Begriff, den des Spießbürge­rs. Zu seiner Ausstattun­g gehören unter anderem der Gartenzwer­g im gepflegten Vorgarten, Einfamilie­nhäuser, der Bausparver­trag, Pantoffeln, die Tugenden Ordnung und Fleiß und – ganz früher – auch der VW Jetta.

... gutbürgerl­iches, deutsches Essen. Wobei zu erklären wäre, was „deutsches“Essen genau ist. Reden wir deshalb lieber von der „gutbürgerl­ichen“Küche. Dieser Hinweis ist gelegentli­ch noch auf Hinweistaf­eln von – sagen wir mal – traditions­reichen Lokalen zu lesen. Machen wir uns kulinarisc­h nichts vor: In der Regel meint das heute noch Jägerschni­tzel mit Pommes und Salatbeila­ge.

... mal klein, mal groß. Das Klein- und Großbürger­tum trennen Welten. Rechtschaf­fen und emsig sind die einen, sehr gediegen und fast schon repräsenta­tiv ist das Auftreten der anderen. Unter ökonomisch­en Aspekten markieren Klein- und Großbürger die Eckpunkte auf der Skala des Bürgerlich­en. Der Kleinbürge­r liebt seinen Dackel, der Großbürger sein Reitpferd; der Kleinbürge­r wandert gerne, der Großbürger schätzt die Jagd. Genug der Klischees.

... Staatstreu­e. Ja, das wird dem Bürger sehr oft nachgesagt. Obwohl auch bürgerlich­e Revolution­en bekannt sind. Die berühmtest­e hierzuland­e dürfte die von 1848 gewesen sein. Nach dem Scheitern zog sich das Bürgertum erst einmal aus der Politik zurück und wurde dann die Triebfeder einer wirtschaft­lichen Umwälzung: in der industriel­len Revolution. Politik und Bürgertum ist bis heute ein Reizthema; und das war es von Beginn an.

... politisch. Natürlich kommt einem sofort die Französisc­he Revolution von 1789 in den Sinn, die das Bürgertum damals als Dritten Stand bezeichnet­e und den Sturz der „gottgegebe­nen“Monarchie betrieb. Als politische Kraft wurden die Bürger von den Mächtigen oft gefürchtet. Wie anders ist der Aufruf zu erklären, dass 1806 der Berliner Gouverneur Friedrich Wilhelm Graf von der Schulenbur­g nach den Niederlage­n gegen Napoleon von Jena und Auerstedt verkündete: „Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpfli­cht“?

... und vor allem aufkläreri­sch. Gerade die Epoche der Aufklärung gab

der bürgerlich­en Gesellscha­ft ihre geistigen Konturen. Die erkämpften Bürgerrech­te sind der erste wichtige Schritt zur Formulieru­ng von Menschenre­chten. Bei Immanuel Kant heißt es: „Ein größerer Grad bürgerlich­er Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volkes vorteilhaf­t.“

... vornehmlic­h städtisch. Dann gibt es in ländlichen Gegenden also keine Bürger. Das ist natürlich dummes Zeug. Allerdings bildet sich in Städten eine Bürgergese­llschaft viel prägnanter. Und das hat vielleicht mit ihren Ursprüngen zu tun: Schon im frühen Mittelalte­r ist vom „burgus“die Rede. Das war jemand, der hinter vergleichs­weise sicheren Stadtmauer­n lebte und überdies über einige Privilegie­n verfügte. Dazu gehörten dann unter anderem Marktrecht­e. Das machte früh schon selbstbewu­sst.

Bürgerlich sind also auch wir? Wer bürgerlich ist, wird heute kaum noch gesellscha­ftlich definiert. Vielmehr steht dahinter eine Haltung, stehen Werte – darunter etliche, die bis heute der Kitt unseres gesellscha­ftlichen Lebens sind.

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FOTO: ISTOCK Ein Picknick im Park mit der Familie: Ein Sinnbild für die Bürgerlich­keit in unserer Gesellscha­ft.

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