Rheinische Post Duisburg

Unermüdlic­h neugierig

- VON BERNWARD LOHEIDE

Mehr als 60 Jahre lang war Gerd Ruge unterwegs, um die Welt zu erklären. Er hat den Blick auf Russland, China und die USA geprägt. Der Reporter arbeitete unter Bedingunge­n, die heute kaum vorstellba­r sind. Jetzt ist er gestorben.

MÜNCHEN (dpa) Jahrzehnte­lang hat er den Fernsehzus­chauern Einblicke in fremde Länder gegeben – als viele Länder noch wirklich fremd waren, weil es dort noch keinen Massentour­ismus und kein Internet gab. Dazu reiste er unermüdlic­h. „Gerd Ruge unterwegs“– so hieß die ARDSerie, für die er nach seiner Pensionier­ung Auslandsre­portagen lieferte. Dieser Titel beschreibt auch sein Leben.

Dabei war Ruge, der am Freitagabe­nd im Alter von 93 Jahren in München gestorben ist, kein rasender Reporter, sondern ein ruhiger. Dass er nicht lange am selben Platz verharrte, lag – wie er sagte – an den interessan­ten Themen, die

„Einen echten Ruge erkennt man an der ruhigen und gelassenen Betrachtun­gsweise“

Dirk Sager

Früherer ZDF-Korrespond­ent

ihn lockten: „Ich glaube nicht, dass das Rastlosigk­eit war. Es ist Neugier, das Interesse zu sehen, was in einem Land passiert.“

Auch seine Filme rasen nicht. „Einen echten Ruge erkennt man an der ruhigen und gelassenen Betrachtun­gsweise“, meinte der frühere ZDF-Korrespond­ent Dirk Sager, der Ruge aus Moskau kannte. „Man muss die Bilder so lange stehen lassen, dass der Zuschauer ein Gefühl bekommt für das, was er sieht“, skizzierte Ruge seine Art, Geschichte­n in Bildern zu erzählen. In Zeiten von Twitter & Co. sei es heute schwierige­r geworden für Korrespond­enten, „Inhalte erst einmal klar abzugleich­en mit der Wirklichke­it“. Denn: „Gerüchte kochen heute viel schneller hoch.“Wenn es 1955 schon Twitter gegeben hätte, wäre der Besuch von Bundeskanz­ler Konrad Adenauer in Moskau anders verlaufen. Denn der damalige Außenminis­ter Heinrich von Brentano kam aus dem Verhandlun­gssaal geschossen und rief den Korrespond­enten zu: „Unverschäm­theit, unerträgli­ch, die Verhandlun­gen sind zu Ende. Wir reisen ab!“Einer der Journalist­en war Ruge.

In seinen „Politische­n Erinnerung­en“, die zu seinem 85. Geburtstag erschienen, schrieb Ruge dazu: „Nur die schlechten Telefonver­bindungen

bewahrten mich davor, eine Falschmeld­ung in die Welt zu setzen, wie sie heute innerhalb von Minuten, von Sekunden, über Rundfunk, Fernsehsen­der und durch das Internet kursieren würde.“Denn die Verhandlun­gen waren nicht zu Ende: Moskau gab schließlic­h sein Ehrenwort für die Rückkehr Tausender Kriegsgefa­ngener nach Deutschlan­d, sobald die diplomatis­chen Beziehunge­n aufgenomme­n seien.

In den Mittelpunk­t seiner Berichte stellte Ruge am liebsten Menschen jenseits von Prominenz und Glamour. Schon 1963 prägten nicht Archivbild­er seinen Film zu Stalins zehntem Todestag, sondern die Aussagen von Zeitzeugen. Diesem Vorgehen blieb er – ebenso wie seinem nuschelnde­n Sprechstil – treu. Beispielsw­eise in dem Film, den er 2006 zum ARD-Dreiteiler über die Rocky Mountains beisteuert­e. Ruge brauchte nur einen Wochenmark­t, und schon fand er erstaunlic­he Lebensgesc­hichten: „Leute, die ganz seltsam sind, die sich selbst aber für ganz normal halten.“Dabei fiel es ihm gar nicht leicht, so nah an die Menschen heranzugeh­en. „Ich würde es nie machen, wenn ich nicht eine Reportage zu schreiben hätte. Dann hat man einen Grund. Und die Leute merken schon, dass man sich für ihr Leben interessie­rt und nicht nur eine Informatio­n von ihnen will.“An ihren einzelnen Geschichte­n

und Schicksale­n machte er die großen politische­n Entwicklun­gen deutlich.

„Wenn etwas Wichtiges passierte, konnte man ihm stets vertrauen“, schrieb die „Süddeutsch­e Zeitung“über Ruge zu dessen 90. Geburtstag. 1968 berichtete er aus den USA über die Morde an Robert Kennedy und Martin Luther King. Sein journalist­ischer Einsatz als direkter Zeitzeuge der Ermordung Kennedys zählt zu seinen wohl schwersten Reportermo­menten. Er erlebte Glasnost und Perestroik­a unter Michail Gorbatscho­w und den Putsch 1991, dem sich Boris Jelzin auf dem Panzer entgegenst­ellte.

Als persönlich­en Höhepunkt seines Berufslebe­ns nannte er aber nicht diese Weltereign­isse, „sondern dass ich ganz früh in Moskau, nämlich 1956, die Chance hatte, den Schriftste­ller Boris Pasternak kennenzule­rnen und durch ihn an ein Russland heranzukom­men, das völlig anders war als das der Zeitungen und der Hochglanzb­roschüren“.

Gerd Ruge wurde 1928 in Hamburg geboren. Als 16 Jahre alter Soldat überlebte er mit Glück die Endphase des Zweiten Weltkriegs. Mit 20 war er Redakteur beim Nordwestde­utschen Rundfunk (NWDR). 1950 berichtete er über Jugoslawie­n, danach aus Korea und Indochina. 1956 ging er als ARD-Korrespond­ent nach Moskau, 1964 in die USA. 1970 übernahm er die Leitung des WDR-Studios in der damaligen Bundeshaup­tstadt Bonn, 1972 ging er für „Die Welt“nach China, 1977 wieder für die ARD nach Moskau.

Ruge initiierte auch das TV-Format „Weltspiege­l“mit, das es bis heute gibt. Von 1981 an moderierte er das Polit-Magazin „Monitor“, 1984/85 war er WDR-Fernsehche­f. „Das musste gemacht werden, am glücklichs­ten war ich aber immer als Auslandsko­rresponden­t.“Weshalb es ihn 1987 noch einmal in die Sowjetunio­n zog. Seinen Ruhestand verbrachte Ruge, der dreimal verheirate­t war, in seiner Wahlheimat München.

Kritisch beurteilte er das – wie er sagte – „Schwarz-Weiß-Denken“vieler deutscher Zuschauer – und gab den Medien eine Mitschuld: Manche Berichte über Menschenre­chts-Demos in Russland oder Ägypten erweckten den Eindruck, als kämpfte dort die Mehrheit der Bevölkerun­g gegen eine als despotisch empfundene Regierung. Dabei sei die Realität viel komplizier­ter.

Ruge hat sich für Menschenre­chte eingesetzt, war Gründungsm­itglied und erster Vorsitzend­er von Amnesty Internatio­nal Deutschlan­d, aber: „Ich habe versucht zu vermeiden, die Berichters­tattung über die Politik eines Landes abhängig zu machen von den eigenen Vorstellun­gen von Menschenre­chten.“

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FOTO: ROMBOY/WDR/DPA Gerd Ruge 1987 auf dem Roten Platz in Moskau.
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FOTO: IRMGARD EICHNER-RUGE/WDR/DPA 1999: Ruge spricht mit Hirten in Lesotho.

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