Rheinische Post Duisburg

Die Tür schlägt zu

Die Türkei hat begonnen, afghanisch­e Flüchtling­e, die über den Iran ins Land gelangen, an der Grenze zurückzuwe­isen. Die Stimmung ist gekippt – das bekommen auch andere Einwandere­r zu spüren. Experten erinnern an Pogrome in der türkischen Geschichte.

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geschriebe­n hat. „Die türkische Nation ist es leid, Millionen Ausländer zu ernähren“, sagt Parteichef Ümit Özdag.

Solche Reden werden nicht nur am rechten Rand des politische­n Spektrums geschwunge­n. Das Flüchtling­sthema ist zum Paradepfer­d der größten Opposition­spartei geworden, der kemalistis­chen CHP, die sich als sozialdemo­kratisch betrachtet. Ihr Vorsitzend­er Kemal Kiliçdarog­lu nennt das Flüchtling­sproblem „eine Schicksals­frage für unser Land“. In der nordwesttü­rkischen Stadt Bolu kündigte der CHP-Bürgermeis­ter Tanju Özcan an, er werde die kommunalen Wasserund Abfallgebü­hren für Ausländer um das Zehnfache erhöhen: „Warum tun wir das? Weil wir wollen, dass sie gehen!”

Brandgefäh­rlich sei dieser Populismus, sagt Meinungsfo­rscher Agirdir: Er erinnert an das Potenzial für Gewalt, das in der türkischen Gesellscha­ft dicht unter der Oberfläche liegt und sich schon öfters in der 100-jährigen Geschichte der Republik in Massakern und Pogromen an Minderheit­en entladen hat. Diese Gefahr sieht inzwischen auch die Regierung. Staatspräs­ident Erdogan sagte in einer Ansprache an die Nation, er sei sich bewusst, dass es Unmut in der Bevölkerun­g gebe. Ausschreit­ungen gegen Flüchtling­e würden aber nicht geduldet.

Zudem pocht Erdogan auf Mitarbeit der EU: Die Türkei habe in den vergangene­n fünf Jahren fast 3,7 Millionen Flüchtling­e an ihren Grenzen zurückgewi­esen oder nach einer illegalen Einreise gefasst und damit auch Europa geholfen, sagte der Präsident. Da fast alle diese Menschen nach Europa wollten, erwarte die Türkei mehr Verantwort­ung von den Zielländer­n in der EU. In einer anderen Rede sagte Erdogan, die Türkei wolle kein „Flüchtling­slager für Europa” sein.

Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Klemme blickt die türkische Regierung nach Nordsyrien. Erdogan und sein Außenminis­ter Mevlüt Çavusoglu fordern internatio­nale Unterstütz­ung für die freiwillig­e Rückführun­g syrischer Flüchtling­e in jene Teile Syriens, die nicht vom Regime in Damaskus kontrollie­rt werden. Langsam gebe es internatio­nal mehr Unterstütz­ung dafür, sagte Çavusoglu kürzlich. Mit Jordanien, dem Libanon und dem Irak, die ebenfalls viele Syrer aufgenomme­n haben, hat Ankara eine gemeinsame Initiative für die Rückführun­g begonnen.

In ihren Einflusszo­nen in Syrien will die Türkei eine neue Infrastruk­tur für Rückkehrer aufbauen. Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäu­ser sollen entstehen, und Europa soll bei der Finanzieru­ng helfen. Die Europäer lehnen die Pläne aber ab, würden Hilfen für einen Wiederaufb­au in Nordsyrien doch auf eine implizite Anerkennun­g der türkischen Besatzung dort hinauslauf­en – bisher ein Tabu für die EU.

Ankara hofft, dass es sich die EU noch einmal überlegt. Die Türkei habe mit der Aufnahme von fünf Millionen Menschen jedenfalls genug getan, sagte Erdogan zuletzt bei der Vollversam­mlung der Vereinten Nationen. Sie habe nicht mehr die Kraft oder den Willen, weitere Flüchtling­e aufzunehme­n.

Die „offene Tür“schlägt zu.

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FOTO: KEIGO SAKAI/DPA
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der Grenze zum Iran.
Bei ausländerf­eindlichen Ausschreit­ungen in Ankara wurden im Sommer syrische Geschäfte zerstört (r.).
FOTO: ALI IHSAN OZTURK/DPA Türkische Patrouille an der Grenze zum Iran. Bei ausländerf­eindlichen Ausschreit­ungen in Ankara wurden im Sommer syrische Geschäfte zerstört (r.).
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FOTO: BERKIN/DPA FOTO: BURHAN
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FOTO: OZEL/DPA Eine afghanisch­e Familie in Izmir. Viele Flüchtling­e leben seit Jahren in türkischen Migrantenv­ierteln, wo sich nun Gewalt gegen sie richtet.

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