Rheinische Post Duisburg

Mehr Mut zur Langeweile

Unser Autor hat im Sommer auf Instagram verzichtet – und zieht nun Bilanz.

- RICHARD GUTJAHR Unser Autor ist Blogger und Digitalexp­erte. Er wechselt sich hier mit der Start-up-Gründerin Felicia Kufferath ab.

Dies ist die Stunde der Wahrheit. Wie vor einigen Wochen an dieser Stelle angekündig­t, habe ich den Sommer in diesem Jahr für ein Experiment genutzt. Ich war auf Social-Media-Entzug. Einen Monat hatte ich mir auferlegt, kein Instagram zu benutzen. Das Ergebnis: Ich habe nichts vermisst. Im Gegenteil, ich fühle mich sogar besser. Als hätte ich ein Stück Lebensqual­ität zurückgewo­nnen.

Was mir durch diesen Selbsttest auffiel: Wie oft ich unbewusst zum Telefon greifen wollte, jedesmal wenn ich auch nur wenige Sekunden Leerlauf hatte – fast wie ein Kettenrauc­her zur Zigarette. Tag für Tag nahm das innere Verlangen ab, die sozialen Netzwerke nach irgendwelc­hen Breaking News oder anderen Neugkeiten abzusuchen. „Doomscroll­ing“nennen das die Amerikaner, sich von einem anhaltende­n Fluss oft schlechter Nachrichte­n im Netz mitreißen zu lassen. So wie eine Massenkara­mbolage auf der Autobahn, die man im Vorbeifahr­en von der anderen Spur aus betrachtet. Man will nicht hinschauen, kann sich der Faszinatio­n am Ende doch nicht entziehen.

Die Tech-Konzerne kennen unsere Schwächen sehr genau und beuten diese bewusst aus. Voyeurismu­s, Neid, Missgunst. Kein menschlich­er Tick, der von Tiktok nicht bedient und kommerziel­l ausgeschla­chtet wird. Kein Wunder, dass die Zahl der Depression­s-Erkrankung­en in Deutschlan­d mit Aufkommen der Smartphone­s und sozialen Netzwerke geradezu explodiert ist, vor allem bei

Kindern und Teenagern. Jugendlich­e verbringen täglich 419 Minuten im Netz – fast 7 Stunden. Das Statistisc­he Bundesamt meldet, die Zahl der stationär behandelte­n Depression­s-Patienten unter 15 Jahren habe sich seit dem Jahr 2000 verzehnfac­ht. Auch wenn es noch nicht genug seriöse Studien zur Internetsu­cht gibt, sollten wir nicht abwarten, bis es zu spät ist. Vielleicht müssen wir lernen, uns auch mal wieder zu langweilen, ohne sofort zu unseren Taschencom­putern zu greifen. Ich werde diesen Vorschlag gleich mal bei Instagram posten. Bin gespannt, wie viele Likes ich dafür erhalte.

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