Mehr Mut zur Langeweile
Unser Autor hat im Sommer auf Instagram verzichtet – und zieht nun Bilanz.
Dies ist die Stunde der Wahrheit. Wie vor einigen Wochen an dieser Stelle angekündigt, habe ich den Sommer in diesem Jahr für ein Experiment genutzt. Ich war auf Social-Media-Entzug. Einen Monat hatte ich mir auferlegt, kein Instagram zu benutzen. Das Ergebnis: Ich habe nichts vermisst. Im Gegenteil, ich fühle mich sogar besser. Als hätte ich ein Stück Lebensqualität zurückgewonnen.
Was mir durch diesen Selbsttest auffiel: Wie oft ich unbewusst zum Telefon greifen wollte, jedesmal wenn ich auch nur wenige Sekunden Leerlauf hatte – fast wie ein Kettenraucher zur Zigarette. Tag für Tag nahm das innere Verlangen ab, die sozialen Netzwerke nach irgendwelchen Breaking News oder anderen Neugkeiten abzusuchen. „Doomscrolling“nennen das die Amerikaner, sich von einem anhaltenden Fluss oft schlechter Nachrichten im Netz mitreißen zu lassen. So wie eine Massenkarambolage auf der Autobahn, die man im Vorbeifahren von der anderen Spur aus betrachtet. Man will nicht hinschauen, kann sich der Faszination am Ende doch nicht entziehen.
Die Tech-Konzerne kennen unsere Schwächen sehr genau und beuten diese bewusst aus. Voyeurismus, Neid, Missgunst. Kein menschlicher Tick, der von Tiktok nicht bedient und kommerziell ausgeschlachtet wird. Kein Wunder, dass die Zahl der Depressions-Erkrankungen in Deutschland mit Aufkommen der Smartphones und sozialen Netzwerke geradezu explodiert ist, vor allem bei
Kindern und Teenagern. Jugendliche verbringen täglich 419 Minuten im Netz – fast 7 Stunden. Das Statistische Bundesamt meldet, die Zahl der stationär behandelten Depressions-Patienten unter 15 Jahren habe sich seit dem Jahr 2000 verzehnfacht. Auch wenn es noch nicht genug seriöse Studien zur Internetsucht gibt, sollten wir nicht abwarten, bis es zu spät ist. Vielleicht müssen wir lernen, uns auch mal wieder zu langweilen, ohne sofort zu unseren Taschencomputern zu greifen. Ich werde diesen Vorschlag gleich mal bei Instagram posten. Bin gespannt, wie viele Likes ich dafür erhalte.