„Dieser Winter wird schwierig“
Der Migrationsexperte spricht über die aktuelle Situation der ukrainischen Kriegsflüchtlinge und ihre Perspektiven.
Herr Knaus, die Ukraine erzielt militärische Erfolge und erobert Gelände zurück. Löst das eine verstärkte Rückkehr von Geflüchteten in die Ukraine aus?
KNAUS Es lässt sich schwer absehen, ob es möglich ist, viele Häuser noch vor dem Winter wieder in Stand zu setzen. Die zurückeroberten Gebiete sind vielfach schwer zerstört, es liegen Mienen, auch die Infrastruktur ist schwer beschädigt. Der Bedarf an Wiederaufbau ist enorm. Die Weltbank geht in einem neuen Bericht von Wiederaufbaukosten in Höhe von 349 Milliarden USDollar aus – und der Krieg geht ja noch weiter. In einer Situation, in der Millionen von Binnenflüchtlingen auf engem Raum leben und es trotz Rückkehrwunsch noch nicht wagen, in ihre Region zurückzugehen, lässt sich von außen schwer sagen, wann Millionen Vertriebene zurückkehren werden. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass es über den Winter noch eine große Zahl von Ukrainern in der EU geben wird.
Kehren inzwischen mehr geflüchtete Ukrainer in ihr Land zurück als in der EU bleiben?
KNAUS Es gibt seit Mai eine große Rückkehrbewegung, das zeigt sich deutlich an der polnisch-ukrainischen Grenze. Bis Ende Juni sind 4,4 Millionen Ukrainer über die
Grenze nach Polen gekommen, weitere natürlich über andere Grenzen. Im gleichen Zeitraum sind schon 2,4 Millionen Ukrainer über Polen in ihr Land zurückgekehrt. Dieser Trend hat sich seitdem fortgesetzt. Bis heute haben etwa vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in der EU einen Antrag auf temporären Schutz gestellt. Sie alle brauchen eine Unterkunft.
Viele Kommunen kommen an ihre Grenzen, mehrere Bundesländer haben bereits einen Aufnahmestopp verhängt.
KNAUS Ja, denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir die größte Flüchtlingskrise in der Nachkriegszeit erleben. Viereinhalb Millionen ukrainische Geflüchtete in der EU sind eine unglaublich große Zahl. So etwas gab es noch nie. Wenn man die Ukrainer und andere Asylwerber zusammennimmt, dann kamen 2022 schon mehr Menschen nach Deutschland als im Jahr 2015. Das ist das Ergebnis von Putins Kriegsführung. Für Kommunen ist das eine enorme Herausforderung. Dieser Winter wird schwierig. Aber man sieht das Licht am Ende des Tunnels. Man sieht, wie viele Menschen gerne in ihre Heimat zurückgehen, man sieht den Willen und die Fähigkeit der Ukraine, Territorium zurückzuerobern. Je schneller der Krieg dort zu Ende geht, desto schneller wird diese Flüchtlingskrise gelöst sein. Deutschland und seine Verbündeten können und müssen dazu einen Beitrag zu leisten.
Was meinen Sie ganz konkret damit, dass dieser Winter schwierig wird?
KNAUS Es kann durchaus sein, dass die Zahl der Menschen, die aus der Ukraine fliehen müssen, noch einmal steigen wird. Wenn die russische Strategie wie derzeit darin besteht, Kraftwerke und notwendige Infrastruktur zur Versorgung von Städten zu zerstören, kann das enorme humanitäre Probleme weiter verschärfen. Schon jetzt gibt es in der Ukraine mehr als sechs Millionen Binnenvertriebene. Dieser Krieg ist leider noch lange nicht zu Ende.
Das Ausmaß der Fluchtbewegung, die der Krieg ausgelöst hat, ist nun schon seit Langem bekannt. Hat man sich trotz besseren Wissens nicht gut genug vorbereitet?
KNAUS Man muss fair bleiben. Die Weltbank ging in einer Studie vor einigen Monaten noch von einem Ende des Krieges im August aus. Niemand kann heute sagen, ob die russische Front schnell zusammenbrechen wird. Wenn das nicht passiert, wird dieser Krieg über den
Winter andauern. Es geht darum, darauf vorbereitet zu sein.
Was wäre der Weg?
KNAUS Zwei Dinge halte ich für zentral: zum einen privaten Gastgebern, die bei sich zu Hause Ukrainer aufgenommen haben, Hilfe zu bieten, gerade wenn Heizkosten steigen und der Winter für viele Menschen schwierig wird. Private Hilfe muss weiterhin möglich bleiben. Zum anderen müsste man die freiwillige Verteilung innerhalb der EU fördern. Seit Februar erleben wir ein Laissez-faire-System. Die Ukrainer gehen dorthin, wo sie wollen. Das hat geholfen, Zwangsquoten wären gescheitert. Aber man könnte trotzdem mehr Angebote vermitteln, damit Menschen auch in Länder wie Frankreich, Spanien oder Italien gehen, die bisher proportional viel weniger Ukrainer aufgenommen haben. Das würde Polen und Tschechien, aber auch Deutschland entlasten. Das müsste man aber organisieren.
Insgesamt sollen die Zahlen von Asylbewerbern in Deutschland deutlich ansteigen, auch aus anderen Ländern. So sagt es etwa der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann. Wie schätzen Sie die Lage ein?
KNAUS Entscheidend ist das große Bild, also die Frage, wie viele Menschen durch irreguläre Migration neu in die EU kommen. Erstaunlicherweise sind diese Zahlen überschaubar. Seit Jahresbeginn bis Ende August sind über Griechenland – die Hauptroute für Syrer und Afghanen in die EU – etwa 8000 Menschen gekommen. Das ist eine sehr niedrige Zahl. Mehr als 14.000 Menschen sind 2022 bisher in Zypern angekommen. Sie sitzen aber dort fest und können nicht weiterreisen. Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Italien kommen, ist zwar wieder angestiegen. Aber sie bewegt sich im Rahmen der vergangenen Jahre und liegt noch weit unter den Zahlen von 2015. In Spanien sind die Zahlen auch niedrig.
Also liegen Herr Herrmann und andere mit ihrer Aussage falsch?
KNAUS Es kommen derzeit viele Menschen nach Deutschland, da hat er recht. Das sind aber vielfach jene, die schon länger in der EU waren und etwa aus Griechenland weiterziehen. Schätzungsweise halten sich noch etwa 30.000 Flüchtlinge oder Asylsuchende auf dem griechischen Festland auf – dann kommt da niemand mehr. Vor zweieinhalb Jahren waren es noch 100.000 in Griechenland. Es gibt auch Tunesier, die visafrei nach Serbien einreisen und nun etwa nach Österreich weiterziehen und Asylanträge stellen. In der EU gibt es bislang auch keine Fortschritte bei Rückführungen. Insgesamt lässt sich das Phänomen auf eine konfuse Politik in der EU zurückführen und nicht auf massiv steigende Flüchtlingszahlen.
Halten Sie die Sorgen vor Problemen durch Migration aus Drittstaaten also für übertrieben?
KNAUS Man muss die Fakten anschauen. Wenn es die Ukraine-Krise nicht gebe, wäre 2022 kein auffälliges Jahr in Bezug auf Migration oder Asyl. Natürlich erhöht der UkraineKrieg massiv den Druck. Alleine in den ersten vier Wochen des Krieges sind mehr Ukrainerinnen und Ukrainer in die EU gekommen als durch irreguläre Migration in den vergangenen 30 Jahren kamen.