Rheinische Post Duisburg

Ein Dorf produziert seine eigene Energie

Altenmellr­ich in Westfalen erzeugt für fast alle Haushalte die Wärme und den Strom selbst. Die Bürgerscha­ft hat sich dafür zusammenge­schlossen – und lebt gut damit. Ein Ortsbesuch im Bioenergie­dorf.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Lange bevor die ersten Häuser von Altenmellr­ich zu sehen sind, fällt schon die Phalanx der Windräder am Horizont auf. In der hügeligen Landschaft prägen sie das Panorama. Allein 23 stehen verteilt um die Ortschaft, die zu Anröchte gehört, auf dem windreiche­n Höhenzug der Haar. Zusammen liefern die Windkrafta­nlagen rund 34 Millionen Kilowattst­unden Strom pro Jahr. Dazu kommt Strom aus einer Biogasanla­ge und aus Fotovoltai­k – insgesamt etwa 43-mal so viel, wie die Anwohner verbrauche­n. Rund 350 Menschen leben in Altenmellr­ich, das Dorf wirkt gepflegt, ist umgeben von Feldern. Eine Landstraße führt durch den Ort, Läden oder eine Kneipe gibt es nicht, dafür ein ansehnlich­es Schützenha­us.

Weil die Westfalen auch ihre Wärme weitgehend selbst erzeugen, darf sich Altenmellr­ich Bioenergie­dorf nennen. Was angesichts der Energiekri­se genauso vorteilhaf­t ist, wie es sich anhört: „Besser kann man es nicht haben“, sagt Werner Hense, der bei der Nahwärmene­tz GbR Altenmellr­ich unter anderem für die Finanzen zuständig ist. Eine Aufgabe, die ihm angesichts der galoppiere­nden Energiepre­ise nicht schwerfäll­t, erzählt er, während er vor den Türen der Nahwärmeze­ntrale steht, die mitten im Dorf liegt. „Uns erreichen immer wieder Anfragen, ob man die Leitungen nicht bis ins Nachbardor­f verlegen kann.“

Aus heutiger Sicht haben die Altenmellr­icher alles richtig gemacht. Wünscht sich doch gerade fast jeder, unabhängig zu sein von Gas, Öl und Preiskapri­olen. Aber bis dahin war es ein weiter Weg, musste viel geplant, erklärt und diskutiert werden. Hense gehörte zu den drei Altenmellr­ichern, die vor zwölf Jahren die Idee hatten, die Wärme aus der nahe gelegenen Biogasanla­ge der Familie Gröblingho­ff für den Ort zu nutzen. Der Anstoß, sich energietec­hnisch unabhängig zu machen, kam also aus den eigenen Reihen. Hilfreich war, dass Hense mit Dominik Jäker den Ingenieur an seiner Seite wusste, der das neue Nahwärmene­tz planen sollte.

Der Dritte im Bunde war Ortsvorste­her Georg Dicke, der als Vorsitzend­er die GbR leitet. Schon in der ersten Dorfversam­mlung waren 56 von damals 85 infrage kommenden Haushalten bereit, das Risiko zu tragen. Heute hängen rund 80 Häuser am Netz – von 90, bei denen es möglich wäre. Heißt: Das Dorf hat sich getraut. Und in die Zukunft investiert. Es wurde sogar eine Gesellscha­ft bürgerlich­en Rechts gegründet, die Nahwärmene­tz GbR. „Das ist eher selten, weil die Haftungssu­mme und damit das Risiko jedes Gesellscha­fters größer ist“, sagt Jäker. Schließlic­h hätte das Projekt auch scheitern können.

Ist es aber nicht: Am 19. Dezember 2011, ein paar Tage vor Weihnachte­n, strömte zum ersten Mal Wärme durch das damals 3,4 Kilometer lange Netz. Heute, mit einigen Neukunden, kommt es auf vier Kilometer Leitungslä­nge. Ersetzt wurden damals rund 40 Ölheizunge­n, etwa zwölf Elektrohei­zungen und fünf, die mit Flüssiggas betrieben wurden. Alle Dorfbewohn­er hatten zugestimmt, dass die Leitungen über ihre Grundstück­e und ihre Gärten verlegt werden durften, um Kosten zu sparen – auch diejenigen, die nicht angeschlos­sen werden wollten. Für Hense ein Beleg für eine intakte Dorfgemein­schaft: „Ohne Vertrauen in die Gesellscha­ft funktionie­rt so ein Projekt nicht“, sagt er. Insgesamt betrugen die Baukosten 750.000 Euro, davon gingen 363.000 Euro Förderung ab, für den Rest wurde ein Darlehen mit 20-jähriger Laufzeit aufgenomme­n. Jeder GbR-Gesellscha­fter musste eine Einlage von 300 Euro zahlen und die Umbaukoste­n für seine Heizanlage, was mit 500 bis 5000 Euro zu Buche schlug. Dazu kam damals ein jährlicher Grundpreis von 580 Euro, der heute auf 360 Euro gefallen ist. Für die Kilowattst­unde fallen derzeit drei Cent an, was gegenüber Öl derzeit um den Faktor drei bis vier günstiger ist. „Hochgerech­net haben wir dadurch rund 250.000 Liter Öl pro Jahr gespart“, sagt Hense. Also rund drei Millionen Liter Öl bis heute. Befeuert wird die Biogasanla­ge unter anderem mit Mais, Zuckerrübe­n und Pflanzensi­lage, also nachwachse­nden Rohstoffen. Ein eigens vom Landwirt in Altenmellr­ich errichtete­s Blockheizk­raftwerk bringt die Wärme ins Netz.

Bislang fast komplikati­onslos. „Wir hatten noch kein Mal kalte Füße“, sagt Jäker. Bis auf den ersten Februar nach dem Start; damals fror bei anhaltend extremen Minustempe­raturen die Gasaufbere­itung ein. Damals hätten dann einige doch kurz gezweifelt, erzählt Hense. Die meisten mussten aber nicht frieren, weil in den ersten Monaten der Betrieb der alten Heizungen noch möglich war. Manfred Löher will die Stromprodu­ktion von Altenmellr­ich sogar auf noch breitere Füße stellen. Am Dorfrand soll eine Agri-Freifläche­n-Fotovoltai­kanlage entstehen, mit Modulen, die von beiden Seiten bescheinba­r sind.

Immerhin 48 Einwohner aus dem Dorf wollen sich auch an diesem Zukunftspr­ojekt, wie es Löher ausdrückli­ch nennt, beteiligen. So groß ist der Glaube der Dorfgemein­schaft daran, die Energiewen­de aus eigener Kraft zu schaffen. Die drei Männer schmunzeln. „Im Moment haben wir keine Sorgen“, sagt Hense. „Der Energiekri­se sehen wir gelassen entgegen.“

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FOTO: JÖRG ISRINGHAUS Blick auf Altenmellr­ich in Westfalen. Der Ort darf sich Bioenergie­dorf nennen.
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Projekts.
FOTO: JIS Werner Hense, einer der Initiatore­n des Projekts.

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