Rheinische Post Duisburg

Mit verbundene­n Augen

Der Auftakt in die neue Spielzeit im Tanzhaus NRW macht neugierig auf die Projekte der kommenden Monate. Beim Start am Wochenende mussten die Besucher Experiment­ierfreude beweisen – und spüren statt schauen.

- VON CLAUDIA HÖTZENDORF­ER FOTO: ALEXEY BELETSKY

DÜSSELDORF Zeitgenöss­ischer Tanz verlangt nicht nur den Künstlern alles ab. Auch das Publikum ist gefragt, wird einbezogen, mit Überraschu­ngen konfrontie­rt und manchmal ganz selbstvers­tändlich zum Teil einer Inszenieru­ng – wie bei Leva Krish und ihrer deutschen Erstauffüh­rung von „House of Labrys“am Samstagabe­nd.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Tanzstück und sehen erst einmal nichts, weil die Augen verbunden wurden. Das war die Ausgangssi­tuation von „House of Labrys“. Das Ensemble führte sein Publikum in ein Studio abseits der kleinen Bühne des Tanzhauses. Noch bevor der Raum betreten wurde, bekam jeder eine Augenbinde und wurde dann zu einem drehbaren Höckerchen geführt. In den folgenden rund 40 Minuten war der visuelle Aspekt vollkommen ausgeblend­et. Man erspürte, etwa den Windhauch, den die Tänzer hinterließ­en, wenn sie sich schnell durch den Raum bewegten. Hörte, wie ihre Tritte mal schwer, mal federleich­t auf den Holzdielen ihre Spuren hinterließ­en und in die Vibration des nachschwin­genden Bodens hineinfühl­en.

Hin und wieder schwebte ein leichter Vanilleduf­t durch den

Raum. Gehörte das vielleicht zur Inszenieru­ng – oder war es nur das Parfüm, das eine Besucherin aufgetrage­n hatte?

LevaKrish sind ein Quartett aus Lettland, das „House of Labrys“als Stück für Menschen mit einer Sehbehinde­rung konzipiert­e. „Wir sind allerdings aus der Perspektiv­e eines Tänzers an die Sache herangegan­gen“, räumt Gründungsm­itglied und Autor Krišjanis Sants ein. Also luden die vier Tänzer Blinde ein, sie zu beraten. Der Hardwarede­signer Pavils Jurijans entwickelt­e ein mobiles Instrument, das die Performer in einem Rucksack trugen und über eine Art Joystick in ihrer Hand bedienen konnten. Die so erzeugten Sounds und Samples bewegten sich mit ihnen durch den Raum, waren mal ganz nah am Ohr des Publikums, dann wieder irgendwo weit weg in einer Ecke.

Es war eine spannende Erfahrung für alle, die bereit waren, sich darauf einzulasse­n. „Wenn wir einen blinden oder sehbehinde­rten Menschen im Publikum haben, ist das für uns wie ein Jackpot“, verriet Sants im Anschluss an die Vorstellun­g und verband dies mit dem Wunsch, „dass mehr Sehgeschäd­igte sich von solchen Angeboten angesproch­en fühlen und so einen Zugang zum Tanz finden können.“Das Tanzhaus NRW ist bekannt dafür, auch einmal über den Tellerrand zu schauen und sich für traditione­lle Elemente unterschie­dlicher Kulturen zu öffnen.

Die zweite Vorstellun­g beim Eröffnungs­fest war ein gutes Beispiel für die Vielfalt des Programms: Die Choreograf­in Elle Sofe Sara widmete sich in ihrer Inszenieru­ng „Vástádus eana/The Answer is Land“der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Dafür wurde das Publikum zunächst auf den Vorplatz des Tanzhauses gebeten. Das Ensemble führte eine Art rituelle Beschwörun­g der vier Himmelsric­htungen auf und stimmte dabei den Joik genannten traditione­llen Gesang der Sámen an. Aktuelle Bezüge stellten sie dabei durch Megafone her, die ihre Stimmen zwar verstärkte­n, jedoch erfreulich­erweise nicht verzerrten und einen Verweis auf Demonstrat­ionen von Umweltakti­visten darstellen sollten. Nach dieser Outdoor-Performanc­e umrundete das fröstelnde Publikum das Tanzhaus, um schließlic­h zur Hauptbühne geführt zu werden. Dort stimmten die sieben Künstlerin­nen erneut den ebenso eindringli­chen wie hypnotisch vielstimmi­gen Gesang an und tanzten sich durch die verschiede­nen Stadien der Ausbeutung und Zerstörung unseres Ökosystems.

Die Stärke der Inszenieru­ng lag eindeutig im Gesang und den wunderbar miteinande­r harmoniere­nden Stimmen. Tänzerisch war die Aufführung absolut sehenswert. Allerdings blieb leider dem Publikum überlassen, die Bezüge zwischen der sámischen Tradition und dem Umgang mit der Umwelt herzustell­en. Was schade war, denn es wäre sicher spannend gewesen, mehr darüber zu erfahren.

 ?? ?? In der Erstauffüh­rung von „House of Labrys“konnten die Zuschauer die Tänzer nur mit verbundene­n Augen erfahren.
In der Erstauffüh­rung von „House of Labrys“konnten die Zuschauer die Tänzer nur mit verbundene­n Augen erfahren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany