Mit verbundenen Augen
Der Auftakt in die neue Spielzeit im Tanzhaus NRW macht neugierig auf die Projekte der kommenden Monate. Beim Start am Wochenende mussten die Besucher Experimentierfreude beweisen – und spüren statt schauen.
DÜSSELDORF Zeitgenössischer Tanz verlangt nicht nur den Künstlern alles ab. Auch das Publikum ist gefragt, wird einbezogen, mit Überraschungen konfrontiert und manchmal ganz selbstverständlich zum Teil einer Inszenierung – wie bei Leva Krish und ihrer deutschen Erstaufführung von „House of Labrys“am Samstagabend.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Tanzstück und sehen erst einmal nichts, weil die Augen verbunden wurden. Das war die Ausgangssituation von „House of Labrys“. Das Ensemble führte sein Publikum in ein Studio abseits der kleinen Bühne des Tanzhauses. Noch bevor der Raum betreten wurde, bekam jeder eine Augenbinde und wurde dann zu einem drehbaren Höckerchen geführt. In den folgenden rund 40 Minuten war der visuelle Aspekt vollkommen ausgeblendet. Man erspürte, etwa den Windhauch, den die Tänzer hinterließen, wenn sie sich schnell durch den Raum bewegten. Hörte, wie ihre Tritte mal schwer, mal federleicht auf den Holzdielen ihre Spuren hinterließen und in die Vibration des nachschwingenden Bodens hineinfühlen.
Hin und wieder schwebte ein leichter Vanilleduft durch den
Raum. Gehörte das vielleicht zur Inszenierung – oder war es nur das Parfüm, das eine Besucherin aufgetragen hatte?
LevaKrish sind ein Quartett aus Lettland, das „House of Labrys“als Stück für Menschen mit einer Sehbehinderung konzipierte. „Wir sind allerdings aus der Perspektive eines Tänzers an die Sache herangegangen“, räumt Gründungsmitglied und Autor Krišjanis Sants ein. Also luden die vier Tänzer Blinde ein, sie zu beraten. Der Hardwaredesigner Pavils Jurijans entwickelte ein mobiles Instrument, das die Performer in einem Rucksack trugen und über eine Art Joystick in ihrer Hand bedienen konnten. Die so erzeugten Sounds und Samples bewegten sich mit ihnen durch den Raum, waren mal ganz nah am Ohr des Publikums, dann wieder irgendwo weit weg in einer Ecke.
Es war eine spannende Erfahrung für alle, die bereit waren, sich darauf einzulassen. „Wenn wir einen blinden oder sehbehinderten Menschen im Publikum haben, ist das für uns wie ein Jackpot“, verriet Sants im Anschluss an die Vorstellung und verband dies mit dem Wunsch, „dass mehr Sehgeschädigte sich von solchen Angeboten angesprochen fühlen und so einen Zugang zum Tanz finden können.“Das Tanzhaus NRW ist bekannt dafür, auch einmal über den Tellerrand zu schauen und sich für traditionelle Elemente unterschiedlicher Kulturen zu öffnen.
Die zweite Vorstellung beim Eröffnungsfest war ein gutes Beispiel für die Vielfalt des Programms: Die Choreografin Elle Sofe Sara widmete sich in ihrer Inszenierung „Vástádus eana/The Answer is Land“der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Dafür wurde das Publikum zunächst auf den Vorplatz des Tanzhauses gebeten. Das Ensemble führte eine Art rituelle Beschwörung der vier Himmelsrichtungen auf und stimmte dabei den Joik genannten traditionellen Gesang der Sámen an. Aktuelle Bezüge stellten sie dabei durch Megafone her, die ihre Stimmen zwar verstärkten, jedoch erfreulicherweise nicht verzerrten und einen Verweis auf Demonstrationen von Umweltaktivisten darstellen sollten. Nach dieser Outdoor-Performance umrundete das fröstelnde Publikum das Tanzhaus, um schließlich zur Hauptbühne geführt zu werden. Dort stimmten die sieben Künstlerinnen erneut den ebenso eindringlichen wie hypnotisch vielstimmigen Gesang an und tanzten sich durch die verschiedenen Stadien der Ausbeutung und Zerstörung unseres Ökosystems.
Die Stärke der Inszenierung lag eindeutig im Gesang und den wunderbar miteinander harmonierenden Stimmen. Tänzerisch war die Aufführung absolut sehenswert. Allerdings blieb leider dem Publikum überlassen, die Bezüge zwischen der sámischen Tradition und dem Umgang mit der Umwelt herzustellen. Was schade war, denn es wäre sicher spannend gewesen, mehr darüber zu erfahren.