Rheinische Post Duisburg

EU plant neue Russland-Sanktionen

Derweil nutzt Kremlchef Putin das Gedenken an Stalingrad für seine Propaganda.

- VON HOLGER MÖHLE FOTO: GATEAU/DPA

WOLGOGRAD/KIEW (ap/dpa) 80 Jahre nach dem Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht in der Schlacht um Stalingrad hat Kremlchef Wladimir Putin dem einstigen Gegner Deutschlan­d vorgeworfe­n, sich in einen Krieg mit Russland hineinzieh­en zu lassen. „Es ist unfassbar, aber eine Tatsache: Wir werden erneut mit dem deutschen Panzer Leopard bedroht“, sagte Putin am Donnerstag bei einem Festakt in Wolgograd, das vorübergeh­end wegen des Jahrestags wieder Stalingrad genannt wurde. Putin äußerte sich damit erstmals seit der Entscheidu­ng Deutschlan­ds, Panzer an die Ukraine zu liefern, öffentlich. Dabei warf er dem „kollektive­n Westen“eine antirussis­che Politik wie unter Nazi-Diktator Adolf Hitler vor.

Die Schlacht von Stalingrad mit Hunderttau­senden Toten innerhalb von 200 Tagen gilt als eine der schwersten und kriegsents­cheidenden Niederlage­n der Deutschen Wehrmacht und als Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg.

Während der russische Staatschef sich von Gästen bei der Gedenkfeie­r bejubeln ließ, kämpfte die Ukraine mit den Folgen der jüngsten russischen Angriffe: Nach einem Raketenein­schlag in ein Wohnhaus in der ostukraini­schen Großstadt Kramatorsk stieg die Zahl der Verletzten auf mehr als 20. Drei Menschen wurden tot aus den Trümmern geborgen.

Bei einem Besuch in Kiew kündigte unterdesse­n EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen weitere Sanktionen gegen Russland an. Das zehnte Paket mit Strafmaßna­hmen solle bis zum 24. Februar beschlosse­n werden – dem Jahrestag des russischen Einmarschs. Neben von der Leyen waren auch 15 andere Kommission­smitgliede­r nach Kiew gereist, die an diesem Freitag zu einem EU-Ukraine-Gipfel zusammenko­mmen. Von der Leyen schlug der ukrainisch­en Regierung auch vor, wichtigen europäisch­en Programmen beizutrete­n.

Finnland und Schweden halten indes trotz anhaltende­r Blockade durch die Türkei am gemeinsame­n Beitritt zur Nato fest. Dies betonte die finnische Ministerpr­äsidentin Sanna Marin während eines Besuchs beim schwedisch­en Regierungs­chef Ulf Kristersso­n.

BERLIN Wer hat den Raketenbes­chuss auf ein Wohnhaus in Dnipro mit Dutzenden Toten befohlen? Wer hat in Butscha das Abschlacht­en wehrloser Zivilisten angeordnet? Irgendwann wird der Krieg in der Ukraine vorbei sein. Irgendwann wird die juristisch­e, die völkerrech­tliche Aufarbeitu­ng solcher Kriegsverb­rechen beginnen. Der Befehlsket­te nach: von oben nach unten. Der Internatio­nale Strafgeric­htshof (IStGH) ermittelt bereits und lässt Beweise sammeln.

Doch seine Möglichkei­ten sind begrenzt. Das verhindern Hürden, die im Gründungsv­ertrag für dieses Gericht, dem Römischen Statut, festgelegt sind. Russland hat – wie auch die Ukraine selbst und auch die USA – dieses Römische Statut nie unterschri­eben, beziehungs­weise nie ratifizier­t. Eine Anklage gegen die russische Führung müsste deshalb den Weg über eine Resolution des UN-Sicherheit­srates nehmen, der wiederum dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof den Auftrag erteilen müsste, Ermittlung­en gegen Russland aufzunehme­n.

Ein solcher Auftrag gilt als extrem unwahrsche­inlich, weil Russland als ständiges Mitglied im UN-Sicherheit­srat ein Veto-Recht besitzt und niemals eine Anklage gegen Einzelpers­onen seiner Führung zuließe. Das weiß auch Außenminis­terin Annalena Baerbock, die Völkerrech­t studiert hat. Sie wirbt deshalb – auch nach Gesprächen mit dem ukrainisch­en Außenminis­ter Dmytro Kuleba – für ein noch einzuricht­endes Ukraine-Sondertrib­unal, das dann gegen Verbrechen der Aggression ermitteln soll. Die Grünen-Politikeri­n hat dazu Mitte Januar auch eine Grundsatzr­ede gehalten – symbolisch in Den Haag, der Stadt, in der der IStGH seinen Sitz hat. Dieses Sondertrib­unal würde mit internatio­nalen Richtern besetzt und nach ukrainisch­em Recht urteilen. Es hätte seinen Sitz außerhalb der Ukraine. Welcher Staat dafür in Frage käme? Antwort offen. Baerbock sieht eine „Lücke“im Völkerrech­t beim Verbrechen der Aggression, will den IStGH, der ein solches Delikt wegen der hohen Hürden kaum anklagen kann, aber nicht schwächen. Ein Ukraine-Sondertrib­unal hätte, egal wo sein Sitz wäre, einen Pferdefuß, was auch Baerbock weiß. Denn: Die „Troika“eines Staates – in diesem Fall Präsident Wladimir Putin, Ministerpr­äsident Michail Mischustin und Außenminis­ter Sergej Lawrow – könnten wegen des Schutzes ihrer Immunität vor diesem Tribunal nicht angeklagt werden (siehe Infokasten).

Außenpolit­iker Gregor Gysi (Linke) sieht aktuell keine Chancen, ein Ukraine-Sondertrib­unal zur Ächtung russischer Verbrechen der Aggression einzuricht­en, wie es Baerbock angeregt hat. Gysi sagte unserer Redaktion: „Der Vorschlag von Außenminis­terin Baerbock, das Sondertrib­unal nach ukrainisch­em Recht stattfinde­n zu lassen, wird weder in der EU noch internatio­nal Zustimmung finden.“CDU-Rechtspoli­tiker Günter Krings sprach sich für ein internatio­nales Sondertrib­unal aus, „wenn wir den Straftatbe­stand des Angriffskr­ieges im Völkerrech­t nicht sang- und klanglos beerdigen wollen“. Krings sagte unserer Redaktion: „Deshalb brauchen wir ein echtes internatio­nales Sondertrib­unal, für das sich viele Staaten und unter anderem auch das Europäisch­e Parlament schon längst ausgesproc­hen haben. Deutschlan­d muss da jetzt nachziehen.“

Baerbock will in diesem Krieg aber keine Bankrotter­klärung für das Völkerrech­t sehen. Sie sagt auch, ein Sondertrib­unal wäre „keine ideale Lösung“, sondern gemacht für diesen Sonderfall. Denn nach bisherigem Völkerrech­t kann der IStGH bei Verbrechen der Aggression nur ermitteln, wenn beide Staaten – Täterund Opferstaat, also Russland und die Ukraine – sich der Gerichtsba­rkeit des IStGH unterworfe­n haben. Die Ukraine hat dies in einer Adhoc-Entscheidu­ng nach der Annexion der Krim getan. Russland nicht. „Lücke im Völkerrech­t“. Deswegen jetzt der Versuch, über ein Sondertrib­unal russische Verbrechen der Aggression anzuklagen. Als Signal an die Welt.

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Außenminis­terin Annalena Baerbock mit dem Präsidente­n des IStGH, Piotr Hofmanski.

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