Rheinische Post Duisburg

Ein Kindstod mit Folgen

Nachdem in Italien eine Mutter nach einer anstrengen­den Entbindung ihr Baby im Schlaf erdrückt hat, ist eine Debatte um die medizinisc­he und psychologi­sche Versorgung in Krankenhäu­sern entbrannt. Eine Petition fordert Reformen.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

ROM Es war am 1. Januar. Eugenia Roccella hieß die ersten drei Neugeboren­en des Jahres in Italien, Chiara, Giulia und Filippo willkommen. In einem Brief an die Neuankömml­inge erläuterte die Ministerin für „Familie, Geburtenra­te und Gleichbere­chtigung“, wie die neue Regierung Familien, Kinder und Geburten fördern wolle. Wenige Tage später sah sich die im Oktober vereidigte Ministerin der Regierung von Giorgia Meloni mit einem drängender­en Thema konfrontie­rt: Schön und gut, dass Italien nun dem seit 2008 andauernde­n Geburtenrü­ckgang den Kampf angesagt hat. Angesichts der Zustände in italienisc­hen Geburtskli­niken wirkt dieses Bemühen wie Makulatur.

Diese Erkenntnis brachte der Tod eines Säuglings am 7. Januar zu Tage. Nach einer 17 Stunden andauernde­n Geburt wollte eine noch auf der Geburtssta­tion eines römischen Krankenhau­ses liegende Mutter das Kind im Bett stillen, schlief ein und erdrückte womöglich den Säugling. Eine Obduktion soll Klarheit über die Todesursac­he bringen. Die übermüdete 29-Jährige will die Krankensch­western zuvor mehrfach um Hilfe gebeten haben, jedoch vergeblich. Immer wieder hätte das Personal den Wunsch abgelehnt, das Kind zu übernehmen.

Wie in vielen anderen Kliniken wird im römischen Sandro-PetriniKra­nkenhaus das sogenannte Rooming-in praktizier­t. Für eine von Beginn an enge Bindung sind die Neugeboren­en mit ihrer Mutter im Zimmer und können in ein Beistellbe­ttchen gelegt werden.

Wegen der Corona-Regeln hätten auch Familienan­gehörige die Mutter nicht unterstütz­en können, berichtete der Vater des Kindes der Zeitung „Il Messaggero“. „Sie wurde im Stich gelassen, meine Partnerin konnte nach 17 Stunden Wehen nicht mehr stehen, war aber gezwungen, sich von Anfang an um das Baby zu kümmern“, wird der Vater zitiert. Die Familie will rechtliche Schritte gegen das Krankenhau­s und das Pflegepers­onal einleiten. Die Staatsanwa­ltschaft ermittelt wegen fahrlässig­er Tötung gegen Unbekannt.

In Italien hat der Fall eine Debatte ausgelöst über die Zustände in Geburtskli­niken, die Überforder­ung der Mütter nach der Geburt und die unangemess­ene Betreuung durch das Krankenhau­spersonal. Der Verein Mama-Chat startete eine Online-Petition, die bisher (Stand 2. Februar) knapp 170.000 Personen unterschri­eben haben, vor allem Frauen. Darin ist die Rede von „violenza ostetrica“, also Hebammen-Gewalt. Wie es in der Petition heißt, komme sie „tagtäglich“vor, fordere unfreiwill­ige Opfer und verursache schwere psychische Traumata, „die nicht nur die Mütter, sondern auch ihre Babys betreffen“.

Gefordert werden mehr Kontrollen, aber auch mehr Unterstütz­ung für Familien, „insbesonde­re während der anstrengen­den, zerbrechli­chen und schwierige­n Zeit der Geburt“. Die Initiative schlägt unter anderem vor, dass Mütter während ihres Krankenhau­saufenthal­ts rund um die Uhr Unterstütz­ung eines Familienmi­tglieds bekommen. Dies ist unter anderem wegen der noch geltenden Corona-Regeln derzeit in italienisc­hen Krankenhäu­sern nicht möglich.

Die Petition traf einen Nerv. Hunderte Mütter in Italien berichtete­n in den sozialen Netzwerken von ihren traumatisc­hen Krankenhau­sErfahrung­en nach der Geburt ihrer Kinder. „Ich wurde genauso behandelt, nur hatte ich Glück“, berichtet Federica. „Erschöpft, völlig allein. Ich werde nie vergessen, wie unmenschli­ch die meisten Mitarbeite­r der Krankensta­tion und der Geburtshil­fe waren.“

Eine Mutter namens Anna berichtete über ihre Erfahrung nach der Geburt ihrer Zwillinge per Kaiserschn­itt: „Ich bat um ein paar Stunden Schlaf, und sie sagten nein, wegen der Mutter-Kind-Bindung. Ich schlief ein, und einer der beiden fiel mir aus den Armen. Sie setzten mich verrückter psychologi­scher Gewalt aus, und ich ging mit dem Gedanken nach Hause, ich sei unfähig und eine schlechte Mutter.“

In der Debatte spielt auch der chronische Personalma­ngel in italienisc­hen Krankenhäu­sern eine Rolle, der sich nach der Corona-Pandemie verstärkt hat. Viele Pflegekräf­te gaben ihre Jobs auf. Silvia Vaccari, Vorsitzend­e des italienisc­hen Hebammenve­rbandes sagt: „In Italien gibt es 20.000 registrier­te Hebammen. Um eine gute Pflege zu gewährleis­ten, sollten wir doppelt so viele sein.“Familienmi­nisterin Roccella wandte sich nun an die Mütter: „Die Geburtenra­te zu steigern, bedeutet auch, die Frauen nicht alleine zu lassen.“Die Regierung werde alles tun, „um ein Unterstütz­ungsnetzwe­rk für werdende Mütter und Kinder zu schaffen“.

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