Von der Eurokritik zum Tabubruch
ANALYSE Sie war als Wahlalternative mit Wirtschaftsthemen gestartet: Die AfD hat seit ihrer Gründung am 6. Februar 2013 einige Häutungen durchgemacht. Was von damals übrig blieb, vor allem wer, wird die nächsten Jahre bestimmen.
Wenn Martin Renner an die Geburtsstunde der Alternative für Deutschland (AfD) zurückdenkt, muss er ein bisschen ausholen. Er ist einer der wenigen, die der Partei noch aus ihrer Gründerrunde erhalten sind. Renner, früher CDU-Mitglied, später NRW-AfD-Sprecher und seit 2017 Bundestagsabgeordneter, erinnert sich also an jenen Februar vor zehn Jahren. Entscheidend scheint ihm aber gar nicht der 6. Februar, an dem die AfD im hessischen Oberursel von 18 Männern in einem schmucklosen Tagungshaus formal aus der Taufe gehoben wurde. Ohne seine „Kampfrede“in Hannover am Abend der Niedersachsenwahl, so lässt er durchblicken, wären die Parteipläne vielleicht nie umgesetzt worden.
Die Nagelprobe in Hannover am 20. Januar 2013 war der letzte Anstoß, den es zur Gründung einer neuen Partei rechts der CDU noch gebraucht hatte: Die CDU muss herbe Verluste einstecken, für Rot-Grün reicht es trotz Zugewinnen zunächst nur knapp. Eine starke FDP und der Rauswurf von Linken und Piraten spiegeln die Gemengelage der gesellschaftlichen Stimmung: Unsicherheit nach der Finanzkrise, Kritik am Euro-Rettungsschirm und der Eurozone im Allgemeinen. Kurzum: Die Themenschneise für Bernd Lucke, Wirtschaftsprofessor und Kandidat der Freien Wähler – die bei jener Wahl in Hannover krachend an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert.
Lucke habe eigentlich keine neue Partei gründen wollen, sagt Renner, genauso wie Alexander Gauland, der einer von 70 Unterstützern der „Wahlalternative 2013“vor Ort gewesen sei. Aber 66 Personen seien dafür gewesen, unter anderem eine Unternehmerin aus Sachsen
namens Frauke Petry, „also haben wir uns an die Arbeit gemacht“, so der 68-Jährige. Auf ihn gingen Name und Logo zurück, das Blau als Parteifarbe habe zwei Gründe: Es sei noch ungenutzt gewesen. „Und es steht in der Psychologie für einen ausgeglichenen Gemütszustand sowie Vernunft.“
Für die Parteigeschichte in der darauffolgenden Dekade lässt sich das nicht gerade behaupten. Ausgeglichen war zwei Jahre später schon vieles nicht mehr. Das bis heute immer wiederkehrende Zerwürfnis um die Frage der inhaltlichen Ausrichtung fand im Essener Chaos-Bundesparteitag Mitte 2015 seinen vorläufigen Höhepunkt: Frauke Petry, inzwischen mit ihrem Chemieunternehmen privat insolvent, drängte mit ihrem Populismus zur Migrationspolitik den Wirtschaftskonservativen Bernd Lucke von der Spitze. Der wurde unter Buhrufen Hunderter aus der Grugahalle gejagt, auch weil er sich gegen den Rechtsruck in der Partei stemmte. Ein Schicksal, das auch Petry (und später Parteichef Jörg Meuthen) widerfährt. Doch an jenem Nach-Wahl-Tag im Herbst 2017, an dem Frauke Petry ihren Rückzug aus der AfD vor versammelter Hauptstadtpresse verkündet, steht die Partei schon ganz woanders. Die Flüchtlingskrise hat ihr immensen Zulauf beschert – und den Einzug in alle Länderparlamente. Der Sprung in den Bundestag markiert aus AfD-Sicht eine weitere Etappe – für Petry aber den Abschied. Zu radikal sei die AfD geworden. Was nicht einmal falsch ist: Seit dem Essener Eklat haben rechte Treiber ihre Positionen und Töne deutlich verschärft.
An der Spitze: Thüringens Landeschef Björn Höcke, der den Wahlkampfton 2017 bereits im Januar gesetzt hatte – mit seiner Aussage über das Berliner Holocaustdenkmal als „Denkmal der Schande“. Der kalkulierte Tabubruch
„Das Blau steht in der Psychologie für einen ausgeglichenen Gemütszustand sowie Vernunft“
wird zur Signatur der AfD, Kritiker werden ausgeblendet oder (wie Petry) ausgebootet. Eine Schlüsselfunktion im Machtgebilde spielt Parteigrande Gauland, dem enge Beziehungen zu ganz Rechtsaußen nachgesagt werden. Und der selbst radikale Spitzen setzt. Im Sommer 2018 etwa: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, sagte er bei einer Veranstaltung der „Jungen Alternative“.
Dass der Thüringer AfD-Verband und Höckes offiziell aufgelöster „Flügel“seit 2020 vom Verfassungsschutz als „erwiesen rechtsextremistische Gruppierung“eingestuft werden, sieht die AfD nicht als Hindernis. Auch dass die Gesamtpartei inzwischen als rechtsextremer Verdachtsfall gilt, halten Parteiköpfe wie Gauland und Renner für politisch instruiert. Die Wähler scheinen dieses Narrativ zu teilen, die Zustimmungswerte in den Ostbundesländern steigen – in jüngsten Umfragen für Sachsen und Thüringen ist die AfD stärkste Kraft. In beiden Ländern wie auch in Brandenburg stehen 2024 Wahlen an.
Aller Voraussicht nach wird die AfD dann gut abschneiden. Trotz oder gerade wegen Schlagzeilen über Spendenaffären, Machtkämpfen, Russlandbeziehungen oder der Festnahme einer AfD-Politikerin bei einer „Reichsbürger“-Razzia. Die Pandemie hat die Partei mit ihrem Framing von „CoronaDiktatur“bis „Marionettenstaat“für sich nutzen können. Krieg und Inflation bieten ausreichend Nährboden für Populismus und Extremismus.
Dass Höcke den Rahmen der Partei nicht sprengt, sondern schmückt, hat sich jüngst beim Neujahrsempfang der AfD in Münster gezeigt. Mit gemäßigten Tönen statt stumpfer Parolen zeichnete er das Bild der AfD als Zukunftspartei. Ob mit ihm als Parteichef und einem noch radikaleren Portfolio, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. In Münster ging es vor allem um Selfies mit Höcke. Viele Mitglieder waren nur aus einem Grund angereist: ihn kennenzulernen.
Martin Renner Gründungsmitglied der AfD zur Farbwahl