Der Entdecker der Möglichkeiten
Im Alter von 81 Jahren ist der Theaterregisseur und Intendant Jürgen Flimm gestorben. Er leitete prominente Häuser und Festivals von Köln über Hamburg bis Salzburg und Berlin. Nachruf auf einen der Großen der Bühnenzunft.
BERLIN Es war noch früh im Jahr 1990, die Straßen waren winterlich glatt, doch aus Amsterdam fuhr man in dieser Nacht maximal erwärmt heim, denn an der Nederlandse Opera hatte es einen Abend gegeben, den der Betrachter nie mehr vergessen sollte. Auf dem Programm stand Mozarts perfektes Meisterwerk, die Oper „Così fan tutte“, am Pult wirkte Nikolaus Harnoncourt, die Bühne besorgte das Ehepaar Rolf und Marianne Glittenberg – und die Inszenierung oblag Jürgen Flimm. Im Nachhinein ist schwer zu sagen, wer da wen inspiriert hat. Gewiss sprach der Komponist durch den Sachverstand des Dirigenten, gewiss war dieses naturhafte 18. Jahrhundert auf der Bühne mit Wasser, Bäumen und Kostümen jener Zeit ein Quell der Inspiration für die Regie – aber es kann auch sein, dass alle sich von Flimms Kunst animiert fühlten, diesen Mozart aus dem Geist des großen Franzosen Marivaux zu erzählen, also aus der scharfsinnigen und entlarvenden Beobachtung von Menschen.
Vielleicht lag hierin die Kunst des großen Theatermanns Jürgen Flimm, der nun im Alter von 81 Jahren gestorben ist: dass er seine Meinung fast nie mit kathedraler Wucht anordnete, sondern mit allen Sinnen registrierte, was die Kollegen beisteuerten. Dass er sich die Lust bewahrte, die Gedanken eines anderen Könners dominieren zu lassen. Wer je mit ihm in einem Opernoder Theaterzimmer zusammensaß und parlierte, spürte das Vergnügen, mit dem Flimm sein Wirken betrieb; das hatte durchaus etwas Kindliches. Andererseits schien sein Arbeitsvergnügen durch höhere Gerechtigkeit geadelt, denn für vieles, was er tat, war er tatsächlich außerordentlich begabt.
Wer sich die Stationen des Flimmschen Theater- und Opernlebens anschaut, kann schon ein wenig in Ehrfurcht fallen: Was hat Flimm eigentlich nicht gemacht? Manchmal glaubte man, er wurde durch sein Leben getrieben, weil alle nach ihm riefen und er einfach nicht ablehnen konnte: Köln (Schauspielhaus). Hamburg (Thalia-Theater). Ruhrtriennale. Salzburg (Festspiele). Berlin (Staatsoper). Als Regisseur arbeitete er in ganz Europa und sogar in New York. Anderseits war einer wie er ja auch begehrenswert: ein Mann des Geistes, in Köln geerdet und deshalb spendabel im Herzen und in der Kunst. Köln war insofern der wichtigste Impuls seines Lebens gewesen, als der kleine Jürgen oft mit seinem Vater ins Schauspielhaus gegangen war – der saß dort oft als der diensthabende Theaterarzt. Das naive Staunen darüber, was andere ihm vorsetzten, war Jürgen Flimm geblieben.
Sofern er nicht an der Zigarette zog, waren es Strippen. Leute holen (wie damals Robert Wilson, als er Intendant in Köln war) und ihnen Möglichkeiten anzubieten, das empfand er als äußerste Befriedigung. Das grandiose und länderumspannende Projekt „Civil Wars“fand 1984 in Köln erst zu sich, nachdem sie an der ersten Station in Rotterdam gleichsam noch geübt hatten. Es war ein hinreißendes Theaterfest; der Autor dieser Zeilen durfte auch ihm beiwohnen. Wilson sagte später einmal, einen solch enthusiastischen Intendanten wie den jungen Flimm habe er später nur noch selten erlebt.
Aber Jürgen Flimm konnte sich auch einigeln und Werke befragen, das tat er beispielsweise im Jahr 2000, als er in Bayreuth mit dem Bühnenbildner Erich Wonder Wagners „Ring des Nibelungen“erarbeitete – das Ergebnis war eine faszinierende Studie über Ort- und Heimatlose, die in eine wüste Welt geworfen waren. Nicht jedes Bild ging auf, nicht jede Idee zündete, aber als Positionsbestimmung trug dieser „Ring“die Handschrift eines Könners, eines Entdeckers der Möglichkeiten.
Doch näher als Wagner lag dem Humanisten Flimm natürlich Wolfgang Amadeus Mozart, mit dem er deutlicher häufiger die Bühnen betrat. An diesen Großmeister dachte Flimm im Jahr 2004, als er nach einem schweren Unfall auf einer Intensivstation lag, danach ein Interview gab und eine angemessene Bilanz seines Lebens mit erfreulichem Ausblick zog: „Ich habe etwas im Leben erreicht, die Damen waren nett zu mir – da gehe ich jetzt halt mal rüber und komme unter Garantie in den Himmel, wo ich dann Mozart kennenlerne.“