Das Leben bewegt sich in keine Richtung
Verstreute Gedanken werden zu einem Ganzen in Ljudmila Ulitzkajas „Die Erinnerung nicht vergessen“.
Am Tag als Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine startete, schrieb Ljudmila Ulitzkaja einen Artikel, um ihren Schmerz auszudrücken, ihre Angst und ihre Scham, weil ihr Land für die Situation verantwortlich ist. „Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes“, heißt es in dem Text, der am 25. Februar 2022 in der „Nowaja Gaseta“erschienen ist. Die Schriftstellerin appelliert darin an ihre Landsleute: „Wir müssen diesen minütlich eskalierenden Krieg stoppen und uns den propagandistischen Lügen entgegenstellen, die durch sämtliche Massenmedien auf unsere Bevölkerung einströmen.“
Mittlerweile wurde der Zeitung „Nowaja Gaseta“die Drucklizenz entzogen, und Ljudmila Ulitzkaja lebt mit ihrem Mann Andrej im Berliner Exil. Eigentlich habe sie vorgehabt, bis zu ihrem Lebensende in Moskau zu bleiben, bekennt die Schriftstellerin, die am 21. Februar 80 wird. Aber ein russisches Sprichwort besagt: „Gott lächelt, wenn er von unseren Plänen hört.“Ihr Artikel gegen den Krieg ist einer von 13 Texten, die jetzt in „Die Erinnerung nicht vergessen“erscheinen. Und der Titel ist Programm.
Einer Chronologie folgen ihre Betrachtungen bis zum Schluss nicht. Weil das Leben rund und weit sei, wie sie formuliert – „es bewegt sich nicht in eine Richtung“. Und so wirft sie in ihren persönlichen Erinnerungen Blicke zurück auf ein Leben. Verstreute Gedanken werden zu einem Ganzen. Sie erzählt, wie in ihrer Familie immer jemand kommen musste, wenn etwas kaputt war, weil alle Männer zwei linke Hände hatten. Weswegen sie selbst einen Mann mit „klugen Händen und klugen Augen“wollte – „ich brauche keinen Wissenschaftler mit Doktortitel, ich bin selber klug“. Und als sie ihren heutigen, dritten Ehemann Andrej kennenlernte, sei es ja genau so gekommen. Er bewirtete in seinem Atelier Freunde und schnitzte, als ein Löffel für die Suppe fehlte, schnell mal einen selbst – „jetzt kann ich ihn kaum dazu bewegen, einen Stuhl zu kleben dabei kann er doch alles“.
Ljudmila Ulitzkaja schreibt über den misslungenen Annäherungsversuch des Hauswartssohnes als sie jung war, der für ihn mit einer Gehirnerschütterung im Bett endete. Über ihre Abtreibung und ihre Krebserkrankung. Es ist zu erfahren, dass zur vollständigen Bildung eines russischen Bürgers das Gefängnis „unbedingt dazugehört“. Dass ein freier Mensch während der Sowjetzeit als „Verrückter, Aussätziger, Selbstmörder oder schlicht als Dummkopf“wahrgenommen wurde. Und wie viel Licht großartige Freundschaften in die dunkle Zeit damals gebracht haben.
Von Liebschaften ist zu lesen und von der Familie. Und die jüdischstämmige Ulitzkaja klärt über ihr Verhältnis zum Christentum auf, von dem sie sich nicht endgültig lösen könne, weil sie jenen Christen nah sein will, die sie geliebt habe und die bereits gestorben seien.
Die Politik gibt in diesen Erinnerungen nur den Rahmen, in dem sich das Private abspielt. Der versöhnliche Blick weicht in den jüngsten Texten dann aber einem harten Realismus.
Info L. Ulitzkaja: „Die Erinnerung nicht vergessen“. Hanser, 192 S., 23 Euro