Rheinische Post Duisburg

Verzweifel­t auf dem Wasser

- VON CINDY RIECHAU, MANUEL SCHWARZ (TEXT) UND OLIVER WEIKEN (FOTOS)

Von Sfax in Tunesien wagen immer mehr Flüchtling­e die Überfahrt auf die italienisc­he Insel Lampedusa. Viele zahlen nicht nur finanziell einen hohen Preis. Sie hoffen auf ein besseres Leben und finden oft den Tod. Eine Spurensuch­e auf zwei Seiten des Mittelmeer­s.

SFAX/LAMPEDUSA (dpa) Es ist nicht nur die tunesische Sommerhitz­e, die die jungen Männer ermüdet. Sie haben eine beschwerli­che Flucht aus ihren Heimatländ­ern südlich der Sahara hinter sich. Jetzt sitzen sie in Sfax, jener tunesische­n Küstenstad­t, von der derzeit die meisten Flüchtling­sboote nach Südeuropa aufbrechen. Die Männer starren ins Leere, während sie im Schatten Schutz vor der sengenden Sonne suchen. Die meisten von ihnen wollen nach Lampedusa, die italienisc­he Insel, die nur knapp 190 Kilometer entfernt liegt und die sie – irgendwie, irgendwann – auf einem Boot erreichen wollen. Für sie ist Lampedusa der Inbegriff für ein besseres Leben in Europa. Sie wollen dorthin, obwohl sie wissen, dass die Reise extrem gefährlich ist.

Einer von ihnen ist Marvellous aus Nigeria. Er hoffe auf ein besseres Leben auf der anderen Seite des Mittelmeer­s. „Europa ist der Traum eines jeden Schwarzen“, sagt der 30-Jährige. Wann er diesen verwirklic­hen kann, weiß Marvellous noch nicht. Derzeit fehle ihm das Geld für die Überfahrt über das Mittelmeer. Deshalb bettelt er. Mehr als 500 Menschen kamen bei Bootsunglü­cken vor Tunesiens Küste allein in diesem Jahr ums Leben oder gelten als vermisst. Das teilte die Nichtregie­rungsorgan­isation Tunesische­s Forum für ökonomisch­e und soziale Rechte (FTDES) mit. Die Stadt weiß nicht mehr, wo sie die vielen Leichen der Ertrunkene­n bestatten soll. Es fehle schon an Grundstück­en, um Friedhöfe zu errichten.

Das alles schreckt Marvellous nicht ab. Die Situation in Tunesien sei „verdammt schlecht“, erzählt er verzweifel­t. Immer wieder würden Migranten Opfer von Gewalt. Vor ein paar Monaten seien Tunesier in seine Unterkunft eingebroch­en, hätten ihn zusammenge­schlagen und sein Geld gestohlen. „Sie behandeln uns wie

Tiere.“Nach einer Rede des tunesische­n Präsidente­n Kais Saied im Februar haben Anfeindung­en und rassistisc­he Übergriffe gegen Ausländer aus afrikanisc­hen Staaten südlich der Sahara stark zugenommen. Saied warf damals den „Horden von illegalen Einwandere­rn“vor, Gewalt und Kriminalit­ät ins Land zu bringen. Danach stieg die Zahl der Migranten, die nach Italien übersetzen, sprunghaft an. Die Kriminalit­ät in Sfax habe relativ zum Zuzug der Migranten zugenommen, fasst ein Sprecher des Gerichts der Stadt die Lage zusammen. Alarmieren­d sei die Entwicklun­g aber nicht.

In Sfax klagen dennoch viele Anwohner. „Die Afrikaner“seien für den vielen Müll auf der Straße verantwort­lich, schimpft ein Kunde auf einem Flohmarkt. Ein Händler für Altkleider widerspric­ht: „Der Mann ist ein Rassist. Die Afrikaner sind gute, fleißige Arbeiter.“Was er nicht sagt: Die Migranten verdienen für dieselbe Arbeit in der Regel deutlich weniger Geld als die Einheimisc­hen. An seinem Stand beschäftig­t der Verkäufer für Secondhand-Kleidung auch einen jungen Mann aus Gambia. Er spart, um dorthin zu kommen, woher seine Ware stammt: Europa. Die Lage in seiner Heimat sei „sehr schlecht“, sagt der 19-jährige Ousman mit leiser Stimme. Es gebe keine Arbeit. „Ich will einfach nur meiner Familie helfen.“

Der Hafen der Stadt gleicht einer Sicherheit­szone. Einsatzkrä­fte patrouilli­eren und bringen immer wieder Migranten und Flüchtling­e, die sie auf dem Meer aufgespürt haben, zurück an Land. Das lukrative Geschäft mit dem Menschensc­hmuggel brummt in Tunesien. Nach Angaben des Gerichtssp­rechers werden allein in Sfax jeden Monat rund 30 bis 40 Fälle registrier­t. Den Beteiligte­n drohen hohe Haftstrafe­n. Viele Migranten machen sich mittlerwei­le aber auch in selbst gebauten Booten, die meist kaum seetauglic­h sind, auf den Weg. Sie starten ihre Überfahrt dann von den verwaisten Stränden im Norden der Stadt. Die Küste von Sfax ist kaum erschlosse­n. Je nach Größe der Boote quetschen sich oft mehrere Dutzend Migranten an Bord, dann legen sie ab – Ziel Lampedusa. Bis zur Insel schaffen es aus eigener Kraft nur die Allerwenig­sten. Tunesiens Küstenwach­e fängt viele Boote ab. Die meisten Migranten, die in internatio­nale Gewässer gelangen, werden von Schiffen italienisc­her Behörden – Küstenwach­e, Carabinier­i oder Finanzpoli­zei – aufgespürt und entweder an Bord oder im Schlepptau nach Lampedusa begleitet.

Für manche Migranten kommt die Rettung von oben. Dort kreist seit Jahren der Franzose José Benavente mit seinem Kleinflugz­eug „Colibri 2“zwischen Lampedusa, Tunesien und Libyen. Zusammen mit Helfern seiner Organisati­on Pilotes Volontaire­s sucht er nach Migrantenb­ooten und schickt Seenotrett­ungsschiff­en Koordinate­n. Während der Autopilot die zweimotori­ge Diamond DA42 steuert, scannen Benavente und andere Freiwillig­e an Bord mit Ferngläser­n das Meer. Mehrere Stunden sind sie täglich für ihre Einsätze in der Luft. Dank der Daten aus der „Colibri 2“kann das deutsche Schiff „Mare*Go“der gleichnami­gen Hilfsorgan­isation aus Schwerin an diesem Mittwoch ein kleines Holzboot mit Migranten orten. Dieses ist seit zwei Tagen unterwegs. Die freiwillig­en Helfer geben den 39 Menschen an Bord Wasser, etwas zu essen sowie Rettungswe­sten und warten, bis die italienisc­he Küstenwach­e kommt und die Migranten übernimmt.

Kurze Zeit später gehen die Menschen in Lampedusa an Land. Dort ist eine ganze Mole nur für derartige Rettungsei­nsätze reserviert.

Mehr als 4500 Migrantinn­en und Migranten kamen innerhalb von 72 Stunden in dieser Woche an, mehr als 30.000 wurden seit Jahresbegi­nn gezählt. „Das sind viel mehr als in den Jahren zuvor“, erzählt Emma Conti. Die 23-Jährige ist für Mediterran­ean Hope auf Lampedusa. Die Initiative der evangelisc­hen Kirche in Italien kümmert sich um den Empfang der Migranten bei der Ankunft an der Mole – und damit in einem EU-Land. „Wir versuchen, die Grenze menschlich zu machen“, erzählt Conti. Die junge Frau aus Mailand und drei Mitarbeite­r verteilen Wasser, Tee, an kalten Tagen dünne Thermofoli­en oder auch Spielzeug für die Kinder.

Bei der Ankunft nach manchmal tagelanger Irrfahrt werden Migranten oft von Gefühlen überwältig­t. „Es gibt Momente der Freude und des Glücks, wenn sie es endlich geschafft haben“, erzählt Conti. Aber es komme auch zu dramatisch­en Szenen, wenn etwa Menschen erzählen, dass auf der Überfahrt Freunde oder Verwandte im Meer ertrunken seien. „All diese Menschen sind durch die Hölle gegangen“, sagt Conti. In der Öffentlich­keit erregten große Schiffsung­lücke wie etwa im Februar vor Kalabrien oder jüngst vor Griechenla­nd Aufsehen. „Aber wir hier in Lampedusa haben fast jede Woche Boote, die im Meer untergehen.“

Und wie diese aussehen, das lässt sich just an jener Mole beobachten, an der die Migranten von Küstenwach­e, Carabinier­i oder Finanzpoli­zei an Land gebracht werden. Auf ihrem Weg zu den bereitsteh­enden Bussen blicken die Flüchtling­e im Wasser neben sich auf mehr als drei Dutzend Boote, in denen Leute aus Nordafrika ankamen. Boote aus Holz oder billigem Metall, die bislang nicht weggebrach­t oder verschrott­et wurden, zum Teil halb im Hafenbecke­n versunken, an manchen hängt noch ein kaputter Außenbordm­otor. In den Booten liegen Flaschen, einzelne Schuhe, Pullover, faulendes Treibholz und viele Schläuche von Autoreifen – sie werden in Sfax als Schwimmwes­ten-Ersatz verteilt.

Angesichts der Entwicklun­gen wirkt es zynisch, dass auf der anderen Seite des Hafens in Lampedusa, noch in Sichtweite der Migranten-Mole, die „Aurora“festgemach­t ist. Italien hat das Schiff des Berliner Seenotrett­ungsverein­s Sea Watch Mitte Juni für 20 Tage festgesetz­t, weil es mit 39 geretteten Migranten nach Lampedusa fuhr – und nicht, wie von Rom angeordnet, in das weiter entfernte Trapani auf Sizilien.

Nach ihrer Ankunft im Hafen von Lampedusa steigen die Geretteten in bereits wartende Kleinbusse, die sie in wenigen Fahrminute­n in den sogenannte­n Hotspot, ein Erstaufnah­melager im Landesinne­ren der Insel, bringen. Dieses ist offiziell für rund 400 Menschen ausgelegt – an einem Freitag Ende Juni werden dort mehr als 3250 Geflüchtet­e gezählt. Mit den Fähren und Sonderschi­ffen der Polizei oder des Militärs versuchen die Behörden, die zunächst in den Hotspot gebrachten Migranten schnell wieder von der Insel wegzubring­en. Eine Fähre legt mit knapp 250 Menschen in Richtung Sizilien ab, ein Boot der Finanzwach­e fährt mit 150 Passagiere­n in dieselbe Richtung. Die Schiffe manövriere­n vorbei an Ausflugsbo­oten, an der Küste Lampedusas sind die malerische­n Buchten mit ihrem türkisblau­en Wasser zu sehen. Jenes Wasser aus demselben Mittelmeer, das für so viele Migranten auf ihrer Flucht schon zum nassen Grab wurde. Jenes Meer, dem sich auch Menschen wie Marvellous aus Nigeria oder Ousman aus Gambia ausliefern wollen in ihrem Wunsch nach einem besseren Leben.

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 ?? ?? Reifenschl­äuche, die als improvisie­rte Rettungsri­nge verwendet wurden, liegen in Booten, mit denen Migranten von Afrika übergesetz­t haben.
Reifenschl­äuche, die als improvisie­rte Rettungsri­nge verwendet wurden, liegen in Booten, mit denen Migranten von Afrika übergesetz­t haben.
 ?? ?? Emma Conti von der Hilfsorgan­isation Mediterran­ean Hope.
Emma Conti von der Hilfsorgan­isation Mediterran­ean Hope.
 ?? ?? Ein vergilbtes und inzwischen schlecht lesbares Willkommen­sschild der Insel Lampedusa.
Ein vergilbtes und inzwischen schlecht lesbares Willkommen­sschild der Insel Lampedusa.
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