Verzweifelt auf dem Wasser
Von Sfax in Tunesien wagen immer mehr Flüchtlinge die Überfahrt auf die italienische Insel Lampedusa. Viele zahlen nicht nur finanziell einen hohen Preis. Sie hoffen auf ein besseres Leben und finden oft den Tod. Eine Spurensuche auf zwei Seiten des Mittelmeers.
SFAX/LAMPEDUSA (dpa) Es ist nicht nur die tunesische Sommerhitze, die die jungen Männer ermüdet. Sie haben eine beschwerliche Flucht aus ihren Heimatländern südlich der Sahara hinter sich. Jetzt sitzen sie in Sfax, jener tunesischen Küstenstadt, von der derzeit die meisten Flüchtlingsboote nach Südeuropa aufbrechen. Die Männer starren ins Leere, während sie im Schatten Schutz vor der sengenden Sonne suchen. Die meisten von ihnen wollen nach Lampedusa, die italienische Insel, die nur knapp 190 Kilometer entfernt liegt und die sie – irgendwie, irgendwann – auf einem Boot erreichen wollen. Für sie ist Lampedusa der Inbegriff für ein besseres Leben in Europa. Sie wollen dorthin, obwohl sie wissen, dass die Reise extrem gefährlich ist.
Einer von ihnen ist Marvellous aus Nigeria. Er hoffe auf ein besseres Leben auf der anderen Seite des Mittelmeers. „Europa ist der Traum eines jeden Schwarzen“, sagt der 30-Jährige. Wann er diesen verwirklichen kann, weiß Marvellous noch nicht. Derzeit fehle ihm das Geld für die Überfahrt über das Mittelmeer. Deshalb bettelt er. Mehr als 500 Menschen kamen bei Bootsunglücken vor Tunesiens Küste allein in diesem Jahr ums Leben oder gelten als vermisst. Das teilte die Nichtregierungsorganisation Tunesisches Forum für ökonomische und soziale Rechte (FTDES) mit. Die Stadt weiß nicht mehr, wo sie die vielen Leichen der Ertrunkenen bestatten soll. Es fehle schon an Grundstücken, um Friedhöfe zu errichten.
Das alles schreckt Marvellous nicht ab. Die Situation in Tunesien sei „verdammt schlecht“, erzählt er verzweifelt. Immer wieder würden Migranten Opfer von Gewalt. Vor ein paar Monaten seien Tunesier in seine Unterkunft eingebrochen, hätten ihn zusammengeschlagen und sein Geld gestohlen. „Sie behandeln uns wie
Tiere.“Nach einer Rede des tunesischen Präsidenten Kais Saied im Februar haben Anfeindungen und rassistische Übergriffe gegen Ausländer aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara stark zugenommen. Saied warf damals den „Horden von illegalen Einwanderern“vor, Gewalt und Kriminalität ins Land zu bringen. Danach stieg die Zahl der Migranten, die nach Italien übersetzen, sprunghaft an. Die Kriminalität in Sfax habe relativ zum Zuzug der Migranten zugenommen, fasst ein Sprecher des Gerichts der Stadt die Lage zusammen. Alarmierend sei die Entwicklung aber nicht.
In Sfax klagen dennoch viele Anwohner. „Die Afrikaner“seien für den vielen Müll auf der Straße verantwortlich, schimpft ein Kunde auf einem Flohmarkt. Ein Händler für Altkleider widerspricht: „Der Mann ist ein Rassist. Die Afrikaner sind gute, fleißige Arbeiter.“Was er nicht sagt: Die Migranten verdienen für dieselbe Arbeit in der Regel deutlich weniger Geld als die Einheimischen. An seinem Stand beschäftigt der Verkäufer für Secondhand-Kleidung auch einen jungen Mann aus Gambia. Er spart, um dorthin zu kommen, woher seine Ware stammt: Europa. Die Lage in seiner Heimat sei „sehr schlecht“, sagt der 19-jährige Ousman mit leiser Stimme. Es gebe keine Arbeit. „Ich will einfach nur meiner Familie helfen.“
Der Hafen der Stadt gleicht einer Sicherheitszone. Einsatzkräfte patrouillieren und bringen immer wieder Migranten und Flüchtlinge, die sie auf dem Meer aufgespürt haben, zurück an Land. Das lukrative Geschäft mit dem Menschenschmuggel brummt in Tunesien. Nach Angaben des Gerichtssprechers werden allein in Sfax jeden Monat rund 30 bis 40 Fälle registriert. Den Beteiligten drohen hohe Haftstrafen. Viele Migranten machen sich mittlerweile aber auch in selbst gebauten Booten, die meist kaum seetauglich sind, auf den Weg. Sie starten ihre Überfahrt dann von den verwaisten Stränden im Norden der Stadt. Die Küste von Sfax ist kaum erschlossen. Je nach Größe der Boote quetschen sich oft mehrere Dutzend Migranten an Bord, dann legen sie ab – Ziel Lampedusa. Bis zur Insel schaffen es aus eigener Kraft nur die Allerwenigsten. Tunesiens Küstenwache fängt viele Boote ab. Die meisten Migranten, die in internationale Gewässer gelangen, werden von Schiffen italienischer Behörden – Küstenwache, Carabinieri oder Finanzpolizei – aufgespürt und entweder an Bord oder im Schlepptau nach Lampedusa begleitet.
Für manche Migranten kommt die Rettung von oben. Dort kreist seit Jahren der Franzose José Benavente mit seinem Kleinflugzeug „Colibri 2“zwischen Lampedusa, Tunesien und Libyen. Zusammen mit Helfern seiner Organisation Pilotes Volontaires sucht er nach Migrantenbooten und schickt Seenotrettungsschiffen Koordinaten. Während der Autopilot die zweimotorige Diamond DA42 steuert, scannen Benavente und andere Freiwillige an Bord mit Ferngläsern das Meer. Mehrere Stunden sind sie täglich für ihre Einsätze in der Luft. Dank der Daten aus der „Colibri 2“kann das deutsche Schiff „Mare*Go“der gleichnamigen Hilfsorganisation aus Schwerin an diesem Mittwoch ein kleines Holzboot mit Migranten orten. Dieses ist seit zwei Tagen unterwegs. Die freiwilligen Helfer geben den 39 Menschen an Bord Wasser, etwas zu essen sowie Rettungswesten und warten, bis die italienische Küstenwache kommt und die Migranten übernimmt.
Kurze Zeit später gehen die Menschen in Lampedusa an Land. Dort ist eine ganze Mole nur für derartige Rettungseinsätze reserviert.
Mehr als 4500 Migrantinnen und Migranten kamen innerhalb von 72 Stunden in dieser Woche an, mehr als 30.000 wurden seit Jahresbeginn gezählt. „Das sind viel mehr als in den Jahren zuvor“, erzählt Emma Conti. Die 23-Jährige ist für Mediterranean Hope auf Lampedusa. Die Initiative der evangelischen Kirche in Italien kümmert sich um den Empfang der Migranten bei der Ankunft an der Mole – und damit in einem EU-Land. „Wir versuchen, die Grenze menschlich zu machen“, erzählt Conti. Die junge Frau aus Mailand und drei Mitarbeiter verteilen Wasser, Tee, an kalten Tagen dünne Thermofolien oder auch Spielzeug für die Kinder.
Bei der Ankunft nach manchmal tagelanger Irrfahrt werden Migranten oft von Gefühlen überwältigt. „Es gibt Momente der Freude und des Glücks, wenn sie es endlich geschafft haben“, erzählt Conti. Aber es komme auch zu dramatischen Szenen, wenn etwa Menschen erzählen, dass auf der Überfahrt Freunde oder Verwandte im Meer ertrunken seien. „All diese Menschen sind durch die Hölle gegangen“, sagt Conti. In der Öffentlichkeit erregten große Schiffsunglücke wie etwa im Februar vor Kalabrien oder jüngst vor Griechenland Aufsehen. „Aber wir hier in Lampedusa haben fast jede Woche Boote, die im Meer untergehen.“
Und wie diese aussehen, das lässt sich just an jener Mole beobachten, an der die Migranten von Küstenwache, Carabinieri oder Finanzpolizei an Land gebracht werden. Auf ihrem Weg zu den bereitstehenden Bussen blicken die Flüchtlinge im Wasser neben sich auf mehr als drei Dutzend Boote, in denen Leute aus Nordafrika ankamen. Boote aus Holz oder billigem Metall, die bislang nicht weggebracht oder verschrottet wurden, zum Teil halb im Hafenbecken versunken, an manchen hängt noch ein kaputter Außenbordmotor. In den Booten liegen Flaschen, einzelne Schuhe, Pullover, faulendes Treibholz und viele Schläuche von Autoreifen – sie werden in Sfax als Schwimmwesten-Ersatz verteilt.
Angesichts der Entwicklungen wirkt es zynisch, dass auf der anderen Seite des Hafens in Lampedusa, noch in Sichtweite der Migranten-Mole, die „Aurora“festgemacht ist. Italien hat das Schiff des Berliner Seenotrettungsvereins Sea Watch Mitte Juni für 20 Tage festgesetzt, weil es mit 39 geretteten Migranten nach Lampedusa fuhr – und nicht, wie von Rom angeordnet, in das weiter entfernte Trapani auf Sizilien.
Nach ihrer Ankunft im Hafen von Lampedusa steigen die Geretteten in bereits wartende Kleinbusse, die sie in wenigen Fahrminuten in den sogenannten Hotspot, ein Erstaufnahmelager im Landesinneren der Insel, bringen. Dieses ist offiziell für rund 400 Menschen ausgelegt – an einem Freitag Ende Juni werden dort mehr als 3250 Geflüchtete gezählt. Mit den Fähren und Sonderschiffen der Polizei oder des Militärs versuchen die Behörden, die zunächst in den Hotspot gebrachten Migranten schnell wieder von der Insel wegzubringen. Eine Fähre legt mit knapp 250 Menschen in Richtung Sizilien ab, ein Boot der Finanzwache fährt mit 150 Passagieren in dieselbe Richtung. Die Schiffe manövrieren vorbei an Ausflugsbooten, an der Küste Lampedusas sind die malerischen Buchten mit ihrem türkisblauen Wasser zu sehen. Jenes Wasser aus demselben Mittelmeer, das für so viele Migranten auf ihrer Flucht schon zum nassen Grab wurde. Jenes Meer, dem sich auch Menschen wie Marvellous aus Nigeria oder Ousman aus Gambia ausliefern wollen in ihrem Wunsch nach einem besseren Leben.