Sechs Lehren aus dem ESC
MEINUNG Der Eurovision Song Contest ist in diesem Jahr nur knapp an einem Desaster vorbeigeschrammt. Anti-Israel-Proteste sowie eine Disqualifizierung gefährdeten die ganze Veranstaltung. Das muss Konsequenzen haben.
United by Music: Wohl noch nie in der Geschichte des Eurovision Song Contest (ESC) war der Wettbewerb weiter von seinem Motto entfernt als in diesem Jahr. Statt gemeinsam auf die vielfältigen Herausforderungen zu reagieren, stellten viele Künstler sowie die veranstaltende Europäische Rundfunkunion (EBU) ausschließlich ihre eigenen Interessen in den Vordergrund. Was dazu führte, dass es eine Zeit lang so aussah, als könne der 68. ESC in Malmö tatsächlich scheitern, zum ersten Mal seit der Premiere im Jahr 1956.
Entzündet hatte sich die Debatte an der Teilnahme Israels, was schon im Vorfeld zu antiisraelischen Reaktionen in etlichen Teilnehmerländern und während der Finalwoche in Schweden zu propalästinensischen Kundgebungen führte. Die Politik aus dem Wettbewerb herauszuhalten, wie es sich die EBU zur Leitlinie erkoren hat, war also in diesem Jahr schon im Vorhinein aussichtslos. Was dazu führte, dass sich die Rundfunkunion zwischen Wunschbild und Wirklichkeit fast kopflos verzettelte, weitere Fehlentscheidungen traf und das wichtigste Eurovisionsprojekt fast selbst demontierte. Für die nächsten, an internationalen Spannungen sicher nicht weniger armen Jahre lassen sich daraus folgende Lehren ableiten:
Mehr Transparenz bei Entscheidungen Erst zu Beginn des zweiten Halbfinales beugte sich die EBU dem Druck der Öffentlichkeit und erklärte, man sei sich der tiefen Gefühle und der starken Meinungen bewusst, die der diesjährige Eurovision Song Contest – vor dem Hintergrund eines schrecklichen Krieges im Nahen Osten – hervorgerufen habe. Meinungen seien legitim und verständlich. Die Entscheidung, Israel aufzunehmen, habe jedoch im Ermessen der EBU gelegen. „Diese Künstler kommen zur Eurovision, um ihre Musik, ihre Kultur und die universelle Botschaft der Einheit durch die Sprache der Musik zu vermitteln“, hieß es. Angesichts der kontroversen Stimmungslage zum Krieg wäre es jedoch seitens der EBU ratsam gewesen, die absolut legitime Teilnahme Israels frühzeitig zu thematisieren, um Kritikern durch einen offenen Umgang mit dem Konflikt den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Die Politik reinholen statt raushalten Spätestens mit den massiven Protesten in Malmö war klar, dass das Politische das Künstlerische überlagern, wenn nicht sogar beschädigen würde. Als EBU weiter am Gute-Laune-Modus festzuhalten, war der falsche Weg. Was hätte dagegen gesprochen, wenn sich zumindest die Veranstalter etwa auf Podien oder im Fernsehen einer Diskussion über die politischen Implikationen des Wettbewerbs gestellt hätten? Damit wäre zumindest die Chance verbunden gewesen, die Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der komplexen Weltlage zu signalisieren.
Die Weltbühne nutzen Der ESC erreicht rund 250 Millionen Fernsehzuschauer in Europa. Wenn der Wettbewerb schon den Zusammenhalt der Menschen beschwört, sollte er dann dafür eintreten, wenn dies infrage gestellt wird – mit einem klaren Bekenntnis für Frieden und Dialog. Die Chance, dies mit einem markanten Bild umzusetzen, etwa Hand in Hand mit allen Künstlern und der israelischen Sängerin Eden Golan in der Mitte, wurde verpasst. Einzig Sieger Nemo fand die richtigen Worte. „Ich hoffe wirklich, dass der Eurovision auch in Zukunft für Frieden und Liebe stehen wird und kann. Ich denke, daran muss noch viel gearbeitet werden“, sagte er – aber erst nach der Veranstaltung.
Die Künstler schützen – vor anderen und sich selbst Der Unmut vieler Demonstranten richtete sich gegen die israelische Sängerin Eden Golan – als könne sie als Privatperson für das Handeln ihrer Regierung oder den Krieg in Gaza verantwortlich gemacht werden. Hier hätte sich die EBU deutlicher für die Künstlerin positionieren müssen. Und auch abwertende Entgleisungen anderer Sängerinnen und Sänger Golan gegenüber, etwa auf einer Pressekonferenz, hätten abgemahnt werden müssen. Stattdessen musste der deutsche Interpret Isaak im Vorfeld des Wettbewerbs das Wort „Shit“aus seinem Text streichen. Der EBU ist die Verhältnismäßigkeit entglitten, sie arbeitet sich am Kleinen ab, statt sich großen Fragen zu widmen. Und wenn sie reagiert, wie beim Ausschluss des Niederländers Joost Klein wegen eines unklaren Vorfalls, schießt sie schnell übers Ziel hinaus, weil sie Hintergründe nicht offen benennt. Das entfremdet die Fans vom Festival, statt sie dafür einzunehmen.
Die Wirklichkeit abbilden Der ESC gilt zwar als große Spaßveranstaltung, als regenbogenbuntes Knallbonbon, deshalb lässt sich die Realität aber nicht ausblenden, wie Malmö gezeigt hat. Trotzdem haben die Veranstalter die Besucher während des Warm-ups in der Halle gebeten, doch bitte auf Buhrufe zu verzichten, weil das nicht zum ESC passe. Was nicht funktionierte, weder bei Eden Golans Auftritt noch bei ESC-Chef Martin Österdahls Ansprache. Statt verkrampft auf heile Welt zu setzen, sollte die Wirklichkeit so gezeigt werden, wie sie ist, weil die von der EBU präsentierte Realität am Ende nur Frust erzeugt und Vorurteile bestätigt.
Klare Botschaft transportieren Stattdessen muss für den ESC gelten, wenn er auch in Zukunft noch ernst genommen werden will, eine klare Botschaft zu transportieren, dafür einzustehen und sich offen gegen jedwede politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ressentiments zu stellen. Sieger Nemo erklärte, nachdem er seine Trophäe zerbrochen hatte, auch der ESC brauche ein wenig Instandsetzung. Zu Recht. Danach darf dann auch wieder gefeiert werden.