Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die dunkle Seite der Macht
Seit zehn Jahren regiert Viktor Orbán. Er hat Ungarn in einen illiberalen Staat verwandelt. Wie konnte das passieren?
BUDAPEST Am Ende landet man bei Viktor Orbán immer am Anfang. Es ist der 16. Juni 1989, als er auf dem Budapester Heldenplatz ans Mikrofon tritt. Offenes Hemd, Dreitagebart, Spickzettel. Gerade ist er 26 geworden. Ein Studentenführer vor seiner ersten großen Rede. Hunderttausende haben sich versammelt. Denn an diesem Tag soll der Leichnam von Imre Nagy umgebettet werden. Nach dem Volksaufstand von 1956 war der Reformkommunist hingerichtet und verscharrt worden. Aber 1989 weht der Wind des Wandels durch Osteuropa. In Budapest wollen die Sozialisten ein Zeichen setzen. Die Opposition zieht mit. Doch dann kommt Orbán.
„Wenn wir an unsere Stärke glauben, können wir der Diktatur ein Ende bereiten“, ruft er und fordert den sofortigen Abzug der Sowjetarmee. „Wenn wir genug Mut haben, können wir die Revolution vollenden.“Stärke, Mut, Revolution. Das sind von Anfang an Schlüsselbegriffe im politischen Denken des Viktor Orbán. Und dieses Denken drängt zur Tat. 1998 wird der Chef des damals noch liberalkonservativen Bundes Junger Demokraten (Fidesz) mit 35 der jüngste Ministerpräsident Ungarns. Aber er scheitert an den verkrusteten postkommunistischen Machtstrukturen.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends kehrt Orbán auf die Straße zurück. Er agitiert. Mobilisiert. Rückt weiter nach rechts. Und gewinnt die Parlamentswahl 2010 haushoch. Die Sozialisten gehen in einem Sumpf aus Korruption und Lügen unter. Vor zehn Jahren schließlich, am 29. Mai 2010, wird Orbán zum zweiten Mal als Ministerpräsident vereidigt, und es ist dieses Datum, das eine Ära begründet. Ein Ende sei nicht in Sicht, glaubt der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev. Er sieht in Orbán einen Mann, der sich einst als „energiegeladener, skrupelloser und talentierter Politneuling in die Freiheit verliebte“, nur um sich später von der dunklen Seite der Macht verführen zu lassen.
Tatsächlich ist der Begriff „Orbánismus“zum Synonym für ein hybrides Mischregime aus Demokratie und antiliberaler Autokratie geworden. Ein solches System zu schaffen, war früh das Ziel des fünffachen Familienvaters. „Eine Ordnung kann man nicht verändern, man kann sie nur umstürzen“, sagt er nach seinem Wahltriumph 2010. Orbán geht kompromisslos zu Werke. Die erste große Aufregung entfacht er mit einem neuen Mediengesetz. Die Regierung bekommt direkten Zugriff auf alle staatlichen Sender, kontrolliert fortan aber auch private Medien.
Mit der veröffentlichten Meinung im Rücken beginnt die Fidesz-regierung einen Frontalangriff auf den liberalen demokratischen Rechtsstaat. Die Partei ändert das Wahlrecht. Vor allem aber lässt Orbán die Verfassung umschreiben. In dem neuen Grundgesetz von 2011 werden die Befugnisse von Parlament und Justiz beschnitten. Die Macht ballt sich in der Regierungszentrale. Welches Ungarn Orbán will, lässt er in die Präambel schreiben, die den Titel „Nationales Bekenntnis“trägt. Persönliche Freiheit und Menschenwürde sind dort nachgeordnet.
Nach seiner Wiederwahl 2014 erklärt Orbán: „Der neue Staat, den wir in Ungarn schaffen, ist ein illiberaler Staat.“Damit ist der Begriff geprägt, der für die Ära Orbán steht wie kein zweiter: die illiberale Demokratie. Oft ist der Ausdruck für absurd erklärt worden. Es gebe keine Demokratie ohne Freiheit. Orbán selbst besteht allerdings darauf, dass „wir die fundamentalen freiheitlichen Prinzipien der Demokratie nicht ablehnen, sondern allein den Liberalismus als Ideologie“. Das zielt vor allem auf die Rechte von Minderheiten.
Für Orbán ist das keine theoretische Frage. Das demonstriert er in der Migrationskrise der Jahre 2015/16. Er erklärt Ungarn nicht nur zum Bollwerk des christlichen
Abendlandes gegen eine muslimische Masseneinwanderung, sondern handelt auch. Als immer mehr Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, auf der Suche nach Asyl über die Balkanroute nach Europa streben, lässt Orbán an der ungarischen Grenze Zäune aus Nato-draht errichten und entsendet Soldaten.
Es ist vor allem die kompromisslose Migrationspolitik, die Orbán zu einer Ikone der neuen nationalistischen Rechten in Europa macht. Er selbst beharrt auch in diesem Fall auf seiner Sicht der Dinge. Nicht er habe sich nach rechts bewegt, sondern der Westen verrate das Wesen Europas. Nach dem Tod seines politischen Idols, des deutschen Altkanzlers Helmut Kohl, erklärt Orbán 2017: „Nach dem Fall der Mauer glaubten wir hier in Mitteleuropa daran, dass Europa unsere Zukunft sei. Jetzt zeigt sich, dass wir die Zukunft Europas sind.“
Mit der Wirklichkeit in der EU ist das schwer in Einklang zu bringen. Seit 2018 läuft ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn, weil dort systematisch die Gewaltenteilung ausgehebelt werde. Die Mitgliedschaft des Fidesz in der konservativen Europäischen Volkspartei ist suspendiert. Warum der endgültige Bruch auf sich warten lässt? Das sei keine Frage des Machtopportunismus, sagt Ivan Krastev. Eher sei hier wie dort ein „seelisches Unbehagen“zu spüren, dass das Erbe von 1989 endgültig verspielt werden könnte. Und es ist keine Frage: Das ist auch Orbáns Erbe.