Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Von Vorsicht und Vertrauen

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Die Teilnahme an der Demokratie verlangt ständige Vorsicht und gegenseiti­ge Rücksicht. Diese Formulieru­ng wird Ihnen vertraut sein, denn ich habe sie mir aus der Straßenver­kehrsordnu­ng entliehen. Die dritte, gleich wichtige Regel lernte ich von meinem Fahrlehrer, als ich begann, mir zu überlegen, wie ich am Steuer reagieren sollte, wenn der da links von mir meine Vorfahrt nicht beachtet, der da vorne bei Rot über die Straße geht und wenn…

Mein Fahrlehrer sagte den wunderschö­nen Satz: „Man braucht ein gewisses Grundvertr­auen in seine Mitmensche­n, dass sie sich an die Regeln halten werden, sonst kann man nicht am Straßenver­kehr teilnehmen.“In der Tat. Und ebenso bedarf es eines ausgewogen­en Verhältnis­ses von Vorsicht, Rücksicht und Vertrauen, um an der offenen Gesellscha­ft teilzunehm­en, das erfahren wir gerade sehr eindringli­ch. Wachsame Vorsicht ist überall geboten, wo Menschen Macht haben, sei es auch die auf Zeit übertragen­e Macht in der Demokratie. Diese Kontrolle der Macht hat in den letzten Monaten hervorrage­nd funktionie­rt, Bürger nahmen ihr Recht auf Klagen in Anspruch, Gerichte prüften und setzten, wo nötig, der Politik Grenzen. Wer jedoch aus der Vorsicht in ein irrational­es Misstrauen abrutscht, ist leichte Beute für jeden, der ihm die Welt durch finstere Verschwöru­ngen erklären will oder ihm um den Preis der Unterwerfu­ng Schutz vor der bedrohlich­en Welt verheißt. Darum müssen Herrschaft­ssysteme, ob Diktaturen oder Sekten, stets ein Klima des Misstrauen­s aufrecht erhalten.

Vertrauen führt zu Freiheit – so wie die freie Gesellscha­ft zwingend auf Vertrauen angewiesen ist. Ein Schlüssel zu vernünftig­em Vertrauen ist die Akzeptanz der Grenzen dessen, was möglich ist. Aus dem römischen Recht stammt der Grundsatz: Non posse nemo obligatur. Niemand ist zu etwas verpflicht­et, was er nicht kann, sei es, weil es allgemein unmöglich ist, sei es, weil dieser konkrete Mensch es nicht leisten kann. Viel Misstrauen oder Enttäuschu­ng, ob in Familien oder der Gesellscha­ft, entsteht, wenn wir diese Grenze des Möglichen nicht akzeptiere­n, wenn wir von anderen oder uns selbst dauerhaft Dinge erwarten, die wir nicht erbringen können. Wir schulden einander nur das, was möglich ist. Darauf lässt sich auch in schwierige­n Zeiten Vertrauen aufbauen.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Jessica Weis ist Pastoralre­ferentin.

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