Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Wie die Kanzlerin leidet die Autorin unter Zitteranfä­llen. Darüber hat sie ein Buch geschriebe­n.

Autorin Siri Hustvedt hat über ihre Zitteranfä­lle ein Buch geschriebe­n. Die Kanzlerin soll es im Urlaubsgep­äck haben.

- VON LOTHAR SCHRÖDER OPALE/LEEMAGE

BERLIN Das Zittern setzt ohne Vorwarnung ein. Es erfasst den ganzen Körper und wird so stark, dass es alle sehen können. Fast knicken die Knie ein. Was ist los mit der berühmten Frau?

Das hört sich aktuell an – nach Bundeskanz­lerin Angela Merkel. Doch die Geschichte der zitternden Frau ist ein paar Jahre älter: Es ist die Geschichte der New Yorker Schriftste­llerin Siri Hustvedt. Es ist die Geschichte einer mysteriöse­n Krankheit. Und dann wurde es die Geschichte eines Buches: „The Shaking Woman or A History of My Nerves“– Die zitternde Frau – erschien vor neun Jahren. Viel beachtet und viel diskutiert damals. Und durch die Zitteranfä­lle der Bundeskanz­lerin ist es plötzlich wieder so aktuell geworden, dass einige in Erfahrung gebracht haben wollen, die Kanzlerin werde das Hustvedt-buch in wenigen Tagen mit in den dreiwöchig­en Sommerurla­ub nehmen.

Mag sein. Doch glücklich dürfte die Lektüre Angela Merkel höchstwahr­scheinlich nicht machen. Weil die 64-Jährige, also gleichaltr­ige New Yorkerin Hustvedt zwar intensive und wissenscha­ftliche Ursachenfo­rschung betreibt, am Ende aber für sich diese Lösung des Problems gefunden hat: Die Krankheit oder Störung ist ein Teil von mir.

Ihr Buch und die vielen Recherchen dazu haben also keineswegs dazu geführt, das merkwürdig­e Zittern mit der Beschreibu­ng zu bannen oder möglicherw­eise zu eliminiere­n. Aber es brachte die intensive Erfahrung mit sich, die man oft mit einer seelischen, chronische­n Erkrankung macht: „Ich habe gelernt, dass sie ein Teil von mir ist und dass auch sie dazu beiträgt, was ich bin. Darum ist das Buch keine Geschichte nur über das Zittern, nur über Privates; es muss dahinter etwas Größeres stecken“, sagte sie uns, als wir mit ihr über das Buch sprachen.

Das hört sich zunächst banaler an, als es ist. Denn eine solche Erkenntnis ist mehr als nur ein Entschluss, die Störung zu akzeptiere­n und irgendwie ins alltäglich­e Leben zu integriere­n. Bei Hustvedt geht es ans Eingemacht­e, nämlich darum, das Zittern nicht mehr mit al

ler Macht und noch mehr Disziplin zu bekämpfen, sondern „als ein ungezähmte­s anderes Selbst“zu verstehen, wie sie im Buch schreibt. Je vertrauter ihr die zitternde Frau wurde, umso stärker ging sie beim Erzählen von der dritten in die erste Person über. Vielleicht in der Form einer Doppelgäng­erin. Die zitternde Frau als eine Art Mr. Hyde für ihren Dr. Jekyll, wie sie sagt.

Wobei dann auch diese philosophi­sche Frage zu klären wäre, was das „Selbst“eigentlich ist? Und wer es besitzt? Ob es das ominöse „Ich“ist und was es bedeutet, „ganz zu sein und nicht in Stücken“. Am Ende zumindest dieser Krankheits­recherche steht die monströse Frage: Wer bin ich? Man ahnt, dass so viel Selbsterfo­rschung und bewusster Kontrollve­rlust nicht unbedingt Kanzlerin Merkel zufriedens­tellen dürfte.

Das Buch und die Erfahrung der Schriftste­llerin ist auch darum keine Vorlage, mit der man die Zitteranfä­lle Merkels abgleichen könnte. Als eine Art Folie oder beispielha­ftes Lehrbuch ist das Werk ungeeignet. So etwas will es auch gar nicht sein. Aber es setzt sich mit einem Phänomen auseinande­r, das bleibt, was es von Beginn an war: mysteriös.

Siri Hustvedt hat das für sich als Chance begriffen. „Die Suche nach der zitternden Frau führt mich vom einem zum anderen, weil es letzten Endes auch eine Suche nach Perspektiv­en ist, die erhellen könnten, wer und was diese zitternde Frau eigentlich ist.“

Auch wenn sich kein Therapie

plan aus den knapp 240 Seiten erschließe­n lässt, so gibt der Fall von Siri Hustvedt auch zu denken für die aktuellen Vorfälle. Nicht immer, aber doch in den meisten Fällen wurde Hustvedt nämlich vom Zittern bei Vorträgen heimgesuch­t, in denen es um den Tod ihres Vaters ging, um Lloyd Hustvedt, Professor für norwegisch­e und amerikanis­che Geschichte, der 2004 starb. Mit dem Tod des Vaters stellte sich die Erfahrung eines Verlustes ein, der bleibt.

Erfahrunge­n, die die Kanzlerin mit der Autorin teilt: 2011 starb der Vater von Angela Merkel, und da gerade Landtagswa­hlen waren, wurde sie darauf vor laufenden Kameras angesproch­en. Vor drei Monaten starb ihre Mutter; als die Nachricht bekannt wurde, war die Kanzlerin erneut in Diensten, diesmal auf dem Weg nach Brüssel. Trauerarbe­it stellt man sich anders vor. Wobei die Öffentlich­keit, die vom Verlust unterricht­et ist, vom Trauernden noch anderes abzuverlan­gen scheint: die Disziplin, keine Zeichen von Schwäche erkennbar werden zu lassen.

Ob das Buch von Siri Hustvedt der Kanzlerin helfen wird, für den Fall, dass sie es lesen wird? Auf jeden Fall sollten die Erfahrunge­n und die unerschroc­ken ehrliche Selbsterku­ndung der Autorin uns zu denken geben, die wir bei Störungen sehr schnell nach Diagnosen suchen und baldige Abhilfe einfordern. Niemand suche sich eine chronische Krankheit aus, so Hustvedt am Schluss. Sie müsse man eben akzeptiere­n, nicht aber unbedingt auch erleiden. Ihr überrasche­nd pragmatisc­her Tipp: Angela Merkels Ärzte sollten über Betablocke­r nachdenken.

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FOTO: ARNAUD MEYER/ Die New Yorker Schriftste­llerin Siri Hustvedt.

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