Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Vergiss mein nicht
ANALYSE Nach einigen Rückschlägen befindet sich die Alzheimerforschung in einer Sackgasse. Anfangs vielversprechende Theorien über die Entstehung der Krankheit bröckeln. Und den Wissenschaftlern fehlt Geld.
Aducanumab sollte der Durchbruch sein. Das Medikament wäre im Erfolgsfall die erste wirksame Waffe gegen Alzheimer gewesen. Doch alle Hoffnungen zerplatzten vor gut drei Monaten. Da meldete der Us-biotechkonzern Biogen, dass nach einer Zwischenanalyse der beiden Phase-3-studien mit mehr als 3200 Probanden es keinerlei Hinweise auf eine heilende Wirkung des Präparats gegeben habe. Kleinere Erfolge in vorherigen Studien seien purer Zufall gewesen.
Für die Demenzforschung war dieser Tag ein schwerer Schlag. Und es war nicht der erste im vergangenen Jahrzehnt. Immer wieder war zuletzt von vielversprechenden Medikamentenstudien zu lesen. Am Ende hieß es stets: keine Wirkung nachweisbar. Rückschläge sind in der Erforschung und Erstellung von Medikamenten Alltag. Oft dauert es tatsächlich Jahre oder Jahrzehnte bis ein Wirkstoff an den Markt kommt. Doch dieser Fall hat eine besondere Brisanz. Denn er konkretisiert einen Verdacht, der einige Wissenschaftler schon lange umtreibt: Dass wir bei der Erforschung der Alzheimer-krankheit in eine falsche Richtung laufen.
Bis heute weiß niemand, was die typischen Symptome auslöst. Die weit verbreitetste Hypothese macht das Protein Beta-amyloid für die Krankheit verantwortlich. In Gehirnen von Alzheimer-patienten tritt es in Klumpen gehäuft auf. Sein Vorläuferprotein findet sich auch in gesunden Gehirnen, wird dort allerdings problemlos abgebaut und lagert sich nicht an. Die Proteinhaufen zerstören bei Alzheimer-patienten die Nervenzelle von außen. Das kognitive System, unser Gedächtnis, wird nachhaltig geschädigt. Die meisten Medikamentenstudien zielen deshalb darauf ab, gegen Beta-amyloid vorzugehen. Auch Aducanumab sollte so ein Antikörper sein.
Nun steht vermehrt ein anderes Protein im Verdacht, die Krankheit auszulösen: Tau. Wie Amyloid kommt es im Gehirn von Alzheimer-patienten in verklumpter Form vor. Die Proteinbündel reichern sich jedoch nicht wie Amyloid außerhalb der Nervenzelle an, sondern innerhalb. Zudem treten die Tau-ablagerungen etwas später auf. Betroffene, in deren Gehirnen nur Amyloid-klumpen zu finden sind, können kognitiv betrachtet gesund sein.
Pierluigi Nicotera, Demenzforscher und Vorsitzender des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn, hält an der Amyloid-theorie trotz der zahlreichen Rückschläge fest. „Vielleicht setzt die Behandlung zu spät ein“, sagt er. Demenzerkrankungen wie Alzheimer entwickelten sich sehr langsam. „Bei Alzheimer deuten unsere Forschungen daraufhin, dass die Schädigung des Gehirns mehr als zehn Jahre vor den offensichtlichen Gedächtnisstörungen beginnt.“Wenn sich die Krankheit zeigt, ist es zu spät.
Schädlicher als die Amyloid-klumpen selbst sind dabei offenbar kleinere Amyloid-ablagerungen. „Sie setzen eine Kette von Ereignissen in Gang, die letztlich zum Entstehen von Tau-anhäufungen und zum Tod von Nervenzellen führt“, sagt Nicotera. In jüngsten Jahren hat sich beispielsweise herausgestellt, dass bei Alzheimer das Immunsystem des Gehirns eine wichtige Rolle spielt. Es kommt zu Entzündungen, die die Erkrankung vorantreiben. Hinzu kommen der persönliche Lebensstil und Umwelteinflüsse. Genau das macht es für die Wissenschaft so schwierig. Demenzerkrankungen kommen mit einer Vielzahl an zellulären und molekularen Veränderungen einher. Manche sind den Wissenschaftlern bekannt, manche nicht.
Es werde darauf ankommen, sagt Nicotera, den richtigen Zeitpunkt für eine Behandlung zu finden. „Man wird wohl eine Kombination von Therapien benötigen. Und dafür brauchen wir bessere Diagnoseverfahren.“Forscher des DZNE fanden zum Beispiel im Nervenwasser und im Blut Eiweißstoffe, die für die Früherkennung von Alzheimer von Nutzen sein könnten.
Bei Krebs oder HIV ist es heute schon möglich, die Krankheit in einem sehr frühen Stadium zu erkennen – weil es die entsprechenden Tests und Biomarker gibt. In der Demenzforschung tappen Wissenschaftler immer noch im Dunkeln. Das hat auch monetäre Gründe. Einst kamen die Diagnosen Krebs oder HIV einem Todesurteil gleich. Dank intensiver Forschung und immenser Summen an Förderung konnten die Krankheiten zwar noch nicht ausgerottet werden, doch die Sterblichkeitsraten sanken durch die neuen Therapien erheblich.
Auch die Demenzforschung ist ein teures Geschäft. „Derzeit verfügt das DZNE über ein jährliches Budget von knapp 90 Millionen Euro“, sagt Nicotera: „Das sind angesichts von rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland etwa 50 Euro pro Person. Das ist nicht ausreichend.“Nicotera gibt zu bedenken, dass die Zahl der Krankheitsfälle steigen wird. Bis 2030 rechnet die Weltgesundheitsorganisation mit bis zu 82 Millionen, bis 2050 mit bis zu 152 Millionen Betroffenen. Derzeit seien rund 50 Millionen Menschen weltweit an Demenz erkrankt. Das größte Risiko zu erkranken, birgt das Alter. Vor dem 65. Lebensjahr sind nur wenige betroffen, unter den 85- bis 89-Jährigen leidet nach Auskunft der Deutschen Alzheimer Gesellschaft jeder Vierte an Demenz.
Viele von ihnen werden von Angehörigen betreut. „Oft geschieht das zulasten der Gesundheit der Angehörigen. Und durch die Pflege können sie häufig nicht in Vollzeit arbeiten. So entstehen Einkommensverluste und gesamtgesellschaftliche Kosten in Milliardenhöhe. Wir brauchen private Investitionen“, sagt Nicotera. Das DZNE hat deshalb im vergangenen Jahr eine Stiftung gegründet, die private Spender animieren soll, in die Demenzforschung zu investieren. „Die Politik allein kann das nicht leisten“, sagt Nicotera.
„Man wird wohl eine Kombination von Therapien benötigen“Pierluigi Nicotera Demenzforscher