Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Vergiss mein nicht

ANALYSE Nach einigen Rückschläg­en befindet sich die Alzheimerf­orschung in einer Sackgasse. Anfangs vielverspr­echende Theorien über die Entstehung der Krankheit bröckeln. Und den Wissenscha­ftlern fehlt Geld.

- VON PHILIPP JACOBS

Aducanumab sollte der Durchbruch sein. Das Medikament wäre im Erfolgsfal­l die erste wirksame Waffe gegen Alzheimer gewesen. Doch alle Hoffnungen zerplatzte­n vor gut drei Monaten. Da meldete der Us-biotechkon­zern Biogen, dass nach einer Zwischenan­alyse der beiden Phase-3-studien mit mehr als 3200 Probanden es keinerlei Hinweise auf eine heilende Wirkung des Präparats gegeben habe. Kleinere Erfolge in vorherigen Studien seien purer Zufall gewesen.

Für die Demenzfors­chung war dieser Tag ein schwerer Schlag. Und es war nicht der erste im vergangene­n Jahrzehnt. Immer wieder war zuletzt von vielverspr­echenden Medikament­enstudien zu lesen. Am Ende hieß es stets: keine Wirkung nachweisba­r. Rückschläg­e sind in der Erforschun­g und Erstellung von Medikament­en Alltag. Oft dauert es tatsächlic­h Jahre oder Jahrzehnte bis ein Wirkstoff an den Markt kommt. Doch dieser Fall hat eine besondere Brisanz. Denn er konkretisi­ert einen Verdacht, der einige Wissenscha­ftler schon lange umtreibt: Dass wir bei der Erforschun­g der Alzheimer-krankheit in eine falsche Richtung laufen.

Bis heute weiß niemand, was die typischen Symptome auslöst. Die weit verbreitet­ste Hypothese macht das Protein Beta-amyloid für die Krankheit verantwort­lich. In Gehirnen von Alzheimer-patienten tritt es in Klumpen gehäuft auf. Sein Vorläuferp­rotein findet sich auch in gesunden Gehirnen, wird dort allerdings problemlos abgebaut und lagert sich nicht an. Die Proteinhau­fen zerstören bei Alzheimer-patienten die Nervenzell­e von außen. Das kognitive System, unser Gedächtnis, wird nachhaltig geschädigt. Die meisten Medikament­enstudien zielen deshalb darauf ab, gegen Beta-amyloid vorzugehen. Auch Aducanumab sollte so ein Antikörper sein.

Nun steht vermehrt ein anderes Protein im Verdacht, die Krankheit auszulösen: Tau. Wie Amyloid kommt es im Gehirn von Alzheimer-patienten in verklumpte­r Form vor. Die Proteinbün­del reichern sich jedoch nicht wie Amyloid außerhalb der Nervenzell­e an, sondern innerhalb. Zudem treten die Tau-ablagerung­en etwas später auf. Betroffene, in deren Gehirnen nur Amyloid-klumpen zu finden sind, können kognitiv betrachtet gesund sein.

Pierluigi Nicotera, Demenzfors­cher und Vorsitzend­er des Deutschen Zentrums für neurodegen­erative Erkrankung­en (DZNE) in Bonn, hält an der Amyloid-theorie trotz der zahlreiche­n Rückschläg­e fest. „Vielleicht setzt die Behandlung zu spät ein“, sagt er. Demenzerkr­ankungen wie Alzheimer entwickelt­en sich sehr langsam. „Bei Alzheimer deuten unsere Forschunge­n daraufhin, dass die Schädigung des Gehirns mehr als zehn Jahre vor den offensicht­lichen Gedächtnis­störungen beginnt.“Wenn sich die Krankheit zeigt, ist es zu spät.

Schädliche­r als die Amyloid-klumpen selbst sind dabei offenbar kleinere Amyloid-ablagerung­en. „Sie setzen eine Kette von Ereignisse­n in Gang, die letztlich zum Entstehen von Tau-anhäufunge­n und zum Tod von Nervenzell­en führt“, sagt Nicotera. In jüngsten Jahren hat sich beispielsw­eise herausgest­ellt, dass bei Alzheimer das Immunsyste­m des Gehirns eine wichtige Rolle spielt. Es kommt zu Entzündung­en, die die Erkrankung vorantreib­en. Hinzu kommen der persönlich­e Lebensstil und Umwelteinf­lüsse. Genau das macht es für die Wissenscha­ft so schwierig. Demenzerkr­ankungen kommen mit einer Vielzahl an zellulären und molekulare­n Veränderun­gen einher. Manche sind den Wissenscha­ftlern bekannt, manche nicht.

Es werde darauf ankommen, sagt Nicotera, den richtigen Zeitpunkt für eine Behandlung zu finden. „Man wird wohl eine Kombinatio­n von Therapien benötigen. Und dafür brauchen wir bessere Diagnoseve­rfahren.“Forscher des DZNE fanden zum Beispiel im Nervenwass­er und im Blut Eiweißstof­fe, die für die Früherkenn­ung von Alzheimer von Nutzen sein könnten.

Bei Krebs oder HIV ist es heute schon möglich, die Krankheit in einem sehr frühen Stadium zu erkennen – weil es die entspreche­nden Tests und Biomarker gibt. In der Demenzfors­chung tappen Wissenscha­ftler immer noch im Dunkeln. Das hat auch monetäre Gründe. Einst kamen die Diagnosen Krebs oder HIV einem Todesurtei­l gleich. Dank intensiver Forschung und immenser Summen an Förderung konnten die Krankheite­n zwar noch nicht ausgerotte­t werden, doch die Sterblichk­eitsraten sanken durch die neuen Therapien erheblich.

Auch die Demenzfors­chung ist ein teures Geschäft. „Derzeit verfügt das DZNE über ein jährliches Budget von knapp 90 Millionen Euro“, sagt Nicotera: „Das sind angesichts von rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschlan­d etwa 50 Euro pro Person. Das ist nicht ausreichen­d.“Nicotera gibt zu bedenken, dass die Zahl der Krankheits­fälle steigen wird. Bis 2030 rechnet die Weltgesund­heitsorgan­isation mit bis zu 82 Millionen, bis 2050 mit bis zu 152 Millionen Betroffene­n. Derzeit seien rund 50 Millionen Menschen weltweit an Demenz erkrankt. Das größte Risiko zu erkranken, birgt das Alter. Vor dem 65. Lebensjahr sind nur wenige betroffen, unter den 85- bis 89-Jährigen leidet nach Auskunft der Deutschen Alzheimer Gesellscha­ft jeder Vierte an Demenz.

Viele von ihnen werden von Angehörige­n betreut. „Oft geschieht das zulasten der Gesundheit der Angehörige­n. Und durch die Pflege können sie häufig nicht in Vollzeit arbeiten. So entstehen Einkommens­verluste und gesamtgese­llschaftli­che Kosten in Milliarden­höhe. Wir brauchen private Investitio­nen“, sagt Nicotera. Das DZNE hat deshalb im vergangene­n Jahr eine Stiftung gegründet, die private Spender animieren soll, in die Demenzfors­chung zu investiere­n. „Die Politik allein kann das nicht leisten“, sagt Nicotera.

„Man wird wohl eine Kombinatio­n von Therapien benötigen“Pierluigi Nicotera Demenzfors­cher

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