Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Lüttich mit Sahne
Die wallonische Stadt trumpft trotz ihrer industriellen Vergangenheit auf – mit einer Krimitour, einem Bummel über den Sonntagsmarkt „La Batte“und einem Traum von einem Bahnhof.
LÜTTICH „Niemand bemerkte etwas. Niemand ahnte auch nur, dass sich im Wartesaal des kleinen Bahnhofs, wo sechs Reisende teilnahmslos im Dunst von Kaffee, Bier und Limonade warteten, ein Drama abspielte.“Wer heute mit dem Zug in die lichte Halle des Bahnhofs Liège-guillemins einfährt, den erinnert zunächst rein gar nichts an das Lüttich Georges Simenons, wie er es in „Maigret und der Gehängte von Saint-pholien“und anderen seiner rund 400 Romane beschrieben hat.
Der Schöpfer von Kommissar Maigret stammt aus dem kulturellen Zentrum der Wallonie. Und die Atmosphäre seiner Geburtsstadt durchströmt viele seiner Romane, obwohl der Schriftsteller seiner Heimat den Rücken kehrte und die Welt zu seinem Zuhause machte.
Als Wiege der Industrialisierung erwirbt sich Lüttich zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Namen „die Feurige“. Wie im Ruhrgebiet schlägt in der Stadt ein Herz aus Kohle und Stahl. Der belgische Stahlkonzern Cockerill-sambre unterhält seinen Stammsitz in der Region, die ihre industrielle Vergangenheit bis heute nicht verleugnen kann. Zwei Jahre nachdem das Limburger Steinkohlerevier erschlossen wird und zwei Jahre bevor die Exposition Universelle die Arbeiterstadt im französischen Landesteil endgültig zur belgischen Industriehauptstadt krönt, erblickt Georges Joseph Christian Simenon am 12. Februar 1903 das Licht der Welt. Offiziell. Denn angeblich soll seine abergläubische Mutter das Datum verändert haben. Der 13. Februar kurz nach Mitternacht schien ihr kein gutes Omen.
Simenons Geburtshaus lag nur einen Katzensprung entfernt von der Place Lambert mit dem Fürstbischöflichen Palast, wo der passionierte Pfeifenraucher Georges im Alter von 13 Jahren seine erste Stummelpfeife kaufte, wie Kommissar Maigret in der Audio-version des Stadtrundgangs ausplaudert. Auch sonst schien der Knabe, der wenige Schritte entfernt in der Rue Leopold Nr. 24 geboren wurde, recht frühreif: Schon mit zwölf Jahren, als Schüler des Collège Saint-servais in der Rue Saint-gilles, steht für ihn fest, dass er Romane schreiben will. Den Anfang macht der junge Mann, der sich als Autor Georges Sim nennt, als Journalist bei der „Gazette de Liège“.
Maigret lässt die Geschichte des Gehängten von Saint-pholien keine Ruhe. Deshalb ist er nach vielen Jahren zurück in der Stadt, um eine Spur zu verfolgen, die ihn am Ende zum Tod des jungen Malers Émile Klein führt, der sich Jahre zuvor an der Pforte der Kirche Saint-pholien erhängt hat. Aus einer Laune heraus hängt sich Kommissar Maigret am Lütticher Bahnhof an die Fersen eines schäbig gekleideten Mannes, den er in einem kleinen Café 1000-Francs-scheine zählen sah. Eine Reise, die Maigret ein quälendes Schuldgefühl einbringt, weil der Mann Selbstmord begeht, nachdem der bemerkt, dass sein Koffer vom Kommissar vertauscht worden ist.
Über die „Pont des Arches“, die Bogenbrücke, die den jungen Sim 1921 zu seinem ersten Roman „Zur Bogenbrücke“inspiriert hat, führt der Rundgang auf die andere Seite der Maas. In Outremeuse ist Simenon zur Schule gegangen, hier steht die Pfarrkirche Saint-pholien, hier wohnte seine Familie in der Rue Pasteur, hier sah er auf der Place d’yser seinem Vater jeden zweiten Sonntag bei den Übungen der Bürgerwehr zu, hier betrieb der Großvater in der Rue Puits-en-sock ein Hutgeschäft.
Auch heute bereitet das frühere Arbeiterviertel Outremeuse mit seinen kleinen Häusern und Gassen die Bühne für pralles, quirliges Leben. Kleine Geschäfte prägen das Bild, Feinkosthändler, Blumenhändler und Metzger. Belgier nordafrikanischen Ursprungs bieten ihre Spezialitäten an. Ein Bild, das sich am Sonntagmorgen auf dem Markt „La Batte“auf der anderen Flussseite ergänzen lässt. Überbordende Stände mit eingelegten Oliven, Pasten und Gemüse wechseln sich ab mit italienischer Feinkost oder vorzüglicher Käseauswahl. Dazwischen lebende Hühner verschiedenster Rassen. „Mama, sieh mal, das Huhn hat Schuhe an“, sagt ein Mädchen staunend mit Blick auf die fedrigen Krallen dreier Hühner. „La Batte“, der größte und älteste Markt seiner Art in Belgien, zieht sich sonntags von 8 bis 14.30 Uhr am Ufer der Maas entlang.
Unterwäsche, T-shirts, schrille Jeans, Sandalen und allerhand Technik-nepp – es fehlt nichts, was einen fast schon südländisch anmutenden Markt ausmacht. Die Einkaufstasche füllt sich schnell mit Pasteten, feinem Ziegenkäse und Holzofenbrot mit dicker Kruste – kulinarische Souvenirs für die Nachbetrachtungen eines Lüttich-wochenendes am heimischen Küchentisch. Auch vor Ort gibt es genug zu verkosten: Waffeln mit jedem erdenklichen Belag, belgische Pommes oder doch lieber Garnelen? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Anders als der Milizsoldat mit der Nummer 7980, der 1922 seinen Wehrdienst in der Kaserne Fonck am Boulevard de la Constitution ableisten musste. Dabei liebäugelte Sim viel mehr mit der Bohème Lüttichs, die sich im nahegelegenen Kabarett „ L’ane Rouge” traf. Neben dem „Roten Esel“gehörte „La Caque“, die Heringstonne, eine Privatwohnung im ersten Stock, zu den Treffpunkten der Szene „aus jungen Ästheten und Farbklecksern, die ab und zu die Kunstakademie besuchten”, wie Simenon sie beschrieb. „Es ging darum, wer den größten Hut trug und die längste Tonpfeife rauchte.” Auch an Frauengeschichten soll es Simenon Zeit seines Lebens nicht gemangelt haben. In der Impasse de la Houpe, wo sich der junge Sim erstmals als Künstler fühlte, laufen die Fäden auch im Krimi zusammen.
In der Heringstonne steigern sich die Kumpane in Apokalypse und Anarchie, fragen sich, zu welchen Verbrechen sie fähig sind. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Vor allem Klein steigert sich in die Vorstellung hinein, dass er am Heiligen Abend einem Künstlerfreund ein Messer in den Bauch sticht. Eine Tat, die Spuren hinterlässt. Die Gruppe löst sich auf, Klein erhängt sich zwei Monate später an der Kirchenpforte. Und auch bei den anderen findet das Gewissen keine Ruhe, wie die Geschichte des zerlumpten Mannes zeigt, der Maigrets Misstrauen erregte. Er hat seine Freunde von früher erpresst. Nicht aus Habgier, denn das Geld hat er verbrannt, sondern, um sie zu ruinieren. Als späte Sühne für die Tat.
Auskunft Informationen über die Stadt, Unterkünfte und Sehenswürdigkeiten gibt es bei der Maison du Tourisme du Pays de Liège, Quai de la Goffe 13, Telefon +324221 9221, und auf www.vistezliege.be. Dort lässt sich auch die 3,5 Kilometer lange Fußgänger-tour „Auf Simenons Spuren“buchen.